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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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Sie mir keinen Besuch, weil Sie mir lange einen schuldig
sind. Sie schreiben mir ja auch, wenn sie Bücher schreiben.
Verstorbenen großen Männern danke ich ihre Bücher, ihre
Aussprüche, ihre hinterlassenen Schätze und ihren Anbau mit
thränendem Dank, als Briefe an mich! "Es winken sich die
Weisen aller Zeiten;" und daß ich sie erkenne, und über-
schwänglich liebe, ist der Segen, die Mitgift, die ich genieße.
Ich vergesse es nie; eben so wenig, als wenn ich schön wäre.
Aber auch ich bin in dem Fall, Ihnen heute nur schreiben zu
können, wie so ich nicht kann. Sonst hätten Sie sich vor
dem Rauschquell meiner Geschwätzigkeit in Acht zu nehmen.
Ich war in Weimar, Frankfurt, Baden, Heidelberg, Straß-
burg. Habe Goethe, Voß, Mlle. Mars, die Französin, spie-
len sehn; den gut gewordenen Sänger Wild gehört: Berg
und Thal, Busch, Gras, Wald, Wolken, Schein; Sonne in
aller Art Thätigkeit gesehen; Luftarten gerochen, Pflanzen
aller Art, das liebe Korn, den stärkenden Hanf; den Rhein
erboßt gesehn; Quellen, Waldflüßchen, Wasserfälle, Fußstege,
Wälder, Kastanien, alles. Und wie würde Steffens das alles
finden; dacht' ich täglich. Ist das ein Brief? Von dem
allen könnte ich mit der Zunge Wunder erzählen; auch mit
der Feder. Aber ich habe nach einer Augenblendung, die ich
den Sonntag hatte, und die drei Viertelstunden aus silber-
nen, zuckenden Blitzrändern bestand, und während dessen ich
nur den obersten Theil der Gegenstände sah, und nur deren
Farbe, nicht Form, -- Kopfweh übrig, und kann weder schrei-
ben noch lesen, ohne es zu vermehren. Gehe aber aus, Heute
Mlle. Sontag in einem Konzert zu hören; aber wie die

Sie mir keinen Beſuch, weil Sie mir lange einen ſchuldig
ſind. Sie ſchreiben mir ja auch, wenn ſie Bücher ſchreiben.
Verſtorbenen großen Männern danke ich ihre Bücher, ihre
Ausſprüche, ihre hinterlaſſenen Schätze und ihren Anbau mit
thränendem Dank, als Briefe an mich! „Es winken ſich die
Weiſen aller Zeiten;“ und daß ich ſie erkenne, und über-
ſchwänglich liebe, iſt der Segen, die Mitgift, die ich genieße.
Ich vergeſſe es nie; eben ſo wenig, als wenn ich ſchön wäre.
Aber auch ich bin in dem Fall, Ihnen heute nur ſchreiben zu
können, wie ſo ich nicht kann. Sonſt hätten Sie ſich vor
dem Rauſchquell meiner Geſchwätzigkeit in Acht zu nehmen.
Ich war in Weimar, Frankfurt, Baden, Heidelberg, Straß-
burg. Habe Goethe, Voß, Mlle. Mars, die Franzöſin, ſpie-
len ſehn; den gut gewordenen Sänger Wild gehört: Berg
und Thal, Buſch, Gras, Wald, Wolken, Schein; Sonne in
aller Art Thätigkeit geſehen; Luftarten gerochen, Pflanzen
aller Art, das liebe Korn, den ſtärkenden Hanf; den Rhein
erboßt geſehn; Quellen, Waldflüßchen, Waſſerfälle, Fußſtege,
Wälder, Kaſtanien, alles. Und wie würde Steffens das alles
finden; dacht’ ich täglich. Iſt das ein Brief? Von dem
allen könnte ich mit der Zunge Wunder erzählen; auch mit
der Feder. Aber ich habe nach einer Augenblendung, die ich
den Sonntag hatte, und die drei Viertelſtunden aus ſilber-
nen, zuckenden Blitzrändern beſtand, und während deſſen ich
nur den oberſten Theil der Gegenſtände ſah, und nur deren
Farbe, nicht Form, — Kopfweh übrig, und kann weder ſchrei-
ben noch leſen, ohne es zu vermehren. Gehe aber aus, Heute
Mlle. Sontag in einem Konzert zu hören; aber wie die

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[215/0223] Sie mir keinen Beſuch, weil Sie mir lange einen ſchuldig ſind. Sie ſchreiben mir ja auch, wenn ſie Bücher ſchreiben. Verſtorbenen großen Männern danke ich ihre Bücher, ihre Ausſprüche, ihre hinterlaſſenen Schätze und ihren Anbau mit thränendem Dank, als Briefe an mich! „Es winken ſich die Weiſen aller Zeiten;“ und daß ich ſie erkenne, und über- ſchwänglich liebe, iſt der Segen, die Mitgift, die ich genieße. Ich vergeſſe es nie; eben ſo wenig, als wenn ich ſchön wäre. Aber auch ich bin in dem Fall, Ihnen heute nur ſchreiben zu können, wie ſo ich nicht kann. Sonſt hätten Sie ſich vor dem Rauſchquell meiner Geſchwätzigkeit in Acht zu nehmen. Ich war in Weimar, Frankfurt, Baden, Heidelberg, Straß- burg. Habe Goethe, Voß, Mlle. Mars, die Franzöſin, ſpie- len ſehn; den gut gewordenen Sänger Wild gehört: Berg und Thal, Buſch, Gras, Wald, Wolken, Schein; Sonne in aller Art Thätigkeit geſehen; Luftarten gerochen, Pflanzen aller Art, das liebe Korn, den ſtärkenden Hanf; den Rhein erboßt geſehn; Quellen, Waldflüßchen, Waſſerfälle, Fußſtege, Wälder, Kaſtanien, alles. Und wie würde Steffens das alles finden; dacht’ ich täglich. Iſt das ein Brief? Von dem allen könnte ich mit der Zunge Wunder erzählen; auch mit der Feder. Aber ich habe nach einer Augenblendung, die ich den Sonntag hatte, und die drei Viertelſtunden aus ſilber- nen, zuckenden Blitzrändern beſtand, und während deſſen ich nur den oberſten Theil der Gegenſtände ſah, und nur deren Farbe, nicht Form, — Kopfweh übrig, und kann weder ſchrei- ben noch leſen, ohne es zu vermehren. Gehe aber aus, Heute Mlle. Sontag in einem Konzert zu hören; aber wie die

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/223>, abgerufen am 21.11.2024.