Höchstes Leid, höchstes Missen, höchste Gelegenheit zum Be- griff seiner selbst und zu dem Werth des ganzen Lebens zu kommen. Cruel apprentissage! cruel maeitre que le ciel nous permet! -- Aber ich bin beruhigt (und nicht mehr cuisant-un- glücklich wie sonst), so lange ich noch etwas lerne. Nur et- was, nur nicht umsonst: wenn auch nur anscheinend um- sonst -- nämlich es kann nur anscheinend umsonst sein: immer aber von oben richtig. Meine Gesundheit ist ganz zer- stört seit diesem Sommer: erschüttert war sie zuletzt von vor zwei Jahren, von einer Schreckenskrankheit; wo mein Helden- körper sichtliche Wunder that: mancher Schreck, und beson- ders Ärger hat mich ganz zerstört, diesen Herbst. Da ich es nicht vermied, war es unvermeidlich. Überhaupt, stirbt jeder an seinem Karakter. Ich ziehe noch immer einen Blitz, wie von Kindheit an, vor. -- Ich lese, habe mes petites-nieces um mich, liebe was ich sonst liebte -- finde es nur schwer -- Luft, Blumen, Feld, Musik, Theater, Tanz, Diskussion, also Gesellschaft; Ordnung, Reinlichkeit, Eleganz, Moden, Witz; Konsequenz, in allem Denken. Sie sehn also, was da zu missen ist! Kurz, wie Sie mich kennen. Sehn Sie mich diesen Sommer, so werden Sie es finden. -- Mir ist es auch sehr angenehm, daß Sie in artigen Verhältnissen der Gesellig- keit leben. Sind Sie aber auch dabei ökonomisch? Ich sehr. Aber kein Plöter, kein Hartherz. Ich bin im Winter äußerst selten aus: sehe nur Menschen bei mir: oft häufig, dann we- niger: immer etwas. -- Leben Sie wohl; und in der Luft: und sehn Sie Veilchen, so grüßen Sie sie von mir. Wir haben auch jetzt welche im Winter.
Adieu! Ihre alte Fr. V.
Höchſtes Leid, höchſtes Miſſen, höchſte Gelegenheit zum Be- griff ſeiner ſelbſt und zu dem Werth des ganzen Lebens zu kommen. Cruel apprentissage! cruel maître que le ciel nous permet! — Aber ich bin beruhigt (und nicht mehr cuisant-un- glücklich wie ſonſt), ſo lange ich noch etwas lerne. Nur et- was, nur nicht umſonſt: wenn auch nur anſcheinend um- ſonſt — nämlich es kann nur anſcheinend umſonſt ſein: immer aber von oben richtig. Meine Geſundheit iſt ganz zer- ſtört ſeit dieſem Sommer: erſchüttert war ſie zuletzt von vor zwei Jahren, von einer Schreckenskrankheit; wo mein Helden- körper ſichtliche Wunder that: mancher Schreck, und beſon- ders Ärger hat mich ganz zerſtört, dieſen Herbſt. Da ich es nicht vermied, war es unvermeidlich. Überhaupt, ſtirbt jeder an ſeinem Karakter. Ich ziehe noch immer einen Blitz, wie von Kindheit an, vor. — Ich leſe, habe mes petites-nièces um mich, liebe was ich ſonſt liebte — finde es nur ſchwer — Luft, Blumen, Feld, Muſik, Theater, Tanz, Diskuſſion, alſo Geſellſchaft; Ordnung, Reinlichkeit, Eleganz, Moden, Witz; Konſequenz, in allem Denken. Sie ſehn alſo, was da zu miſſen iſt! Kurz, wie Sie mich kennen. Sehn Sie mich dieſen Sommer, ſo werden Sie es finden. — Mir iſt es auch ſehr angenehm, daß Sie in artigen Verhältniſſen der Geſellig- keit leben. Sind Sie aber auch dabei ökonomiſch? Ich ſehr. Aber kein Plöter, kein Hartherz. Ich bin im Winter äußerſt ſelten aus: ſehe nur Menſchen bei mir: oft häufig, dann we- niger: immer etwas. — Leben Sie wohl; und in der Luft: und ſehn Sie Veilchen, ſo grüßen Sie ſie von mir. Wir haben auch jetzt welche im Winter.
Adieu! Ihre alte Fr. V.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0501"n="493"/>
Höchſtes Leid, höchſtes Miſſen, höchſte Gelegenheit zum Be-<lb/>
griff ſeiner ſelbſt und zu dem Werth des ganzen Lebens zu<lb/>
kommen. <hirendition="#aq">Cruel apprentissage! cruel maître que le ciel nous<lb/>
permet!</hi>— Aber ich bin beruhigt (und nicht mehr <hirendition="#aq">cuisant</hi>-un-<lb/>
glücklich wie ſonſt), ſo lange ich noch etwas lerne. Nur <hirendition="#g">et-<lb/>
was</hi>, nur nicht umſonſt: wenn auch nur <hirendition="#g">anſcheinend</hi> um-<lb/>ſonſt — nämlich es kann nur <hirendition="#g">anſcheinend</hi> umſonſt ſein:<lb/>
immer aber von oben richtig. Meine Geſundheit iſt ganz zer-<lb/>ſtört ſeit dieſem Sommer: erſchüttert war ſie zuletzt von vor<lb/>
zwei Jahren, von einer Schreckenskrankheit; wo mein Helden-<lb/>
körper <hirendition="#g">ſichtliche</hi> Wunder that: mancher Schreck, und beſon-<lb/>
ders <hirendition="#g">Ärger</hi> hat mich ganz zerſtört, dieſen Herbſt. Da ich es<lb/>
nicht vermied, war es unvermeidlich. Überhaupt, ſtirbt jeder<lb/>
an ſeinem Karakter. Ich ziehe noch immer einen Blitz, wie<lb/>
von Kindheit an, vor. — Ich leſe, habe <hirendition="#aq">mes petites-nièces</hi><lb/>
um mich, liebe <hirendition="#g">was</hi> ich ſonſt liebte —<hirendition="#g">finde</hi> es nur ſchwer —<lb/>
Luft, Blumen, Feld, Muſik, Theater, Tanz, Diskuſſion, alſo<lb/>
Geſellſchaft; Ordnung, Reinlichkeit, Eleganz, Moden, Witz;<lb/><hirendition="#g">Konſequenz</hi>, in allem <hirendition="#g">Denken</hi>. Sie ſehn alſo, was da<lb/>
zu miſſen iſt! Kurz, wie Sie mich kennen. Sehn Sie mich<lb/>
dieſen Sommer, ſo werden Sie es finden. — Mir iſt es auch<lb/>ſehr angenehm, daß Sie in artigen Verhältniſſen der Geſellig-<lb/>
keit leben. Sind Sie aber auch dabei ökonomiſch? Ich ſehr.<lb/>
Aber kein Plöter, kein Hartherz. Ich bin im Winter <hirendition="#g">äußerſt</hi><lb/>ſelten aus: ſehe nur Menſchen bei mir: oft häufig, dann we-<lb/>
niger: immer etwas. — Leben Sie wohl; und in der Luft: und<lb/>ſehn Sie Veilchen, ſo grüßen Sie ſie von mir. Wir haben auch<lb/>
jetzt welche im Winter.</p><closer><salute>Adieu! Ihre alte <hirendition="#et">Fr. V.</hi></salute></closer></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[493/0501]
Höchſtes Leid, höchſtes Miſſen, höchſte Gelegenheit zum Be-
griff ſeiner ſelbſt und zu dem Werth des ganzen Lebens zu
kommen. Cruel apprentissage! cruel maître que le ciel nous
permet! — Aber ich bin beruhigt (und nicht mehr cuisant-un-
glücklich wie ſonſt), ſo lange ich noch etwas lerne. Nur et-
was, nur nicht umſonſt: wenn auch nur anſcheinend um-
ſonſt — nämlich es kann nur anſcheinend umſonſt ſein:
immer aber von oben richtig. Meine Geſundheit iſt ganz zer-
ſtört ſeit dieſem Sommer: erſchüttert war ſie zuletzt von vor
zwei Jahren, von einer Schreckenskrankheit; wo mein Helden-
körper ſichtliche Wunder that: mancher Schreck, und beſon-
ders Ärger hat mich ganz zerſtört, dieſen Herbſt. Da ich es
nicht vermied, war es unvermeidlich. Überhaupt, ſtirbt jeder
an ſeinem Karakter. Ich ziehe noch immer einen Blitz, wie
von Kindheit an, vor. — Ich leſe, habe mes petites-nièces
um mich, liebe was ich ſonſt liebte — finde es nur ſchwer —
Luft, Blumen, Feld, Muſik, Theater, Tanz, Diskuſſion, alſo
Geſellſchaft; Ordnung, Reinlichkeit, Eleganz, Moden, Witz;
Konſequenz, in allem Denken. Sie ſehn alſo, was da
zu miſſen iſt! Kurz, wie Sie mich kennen. Sehn Sie mich
dieſen Sommer, ſo werden Sie es finden. — Mir iſt es auch
ſehr angenehm, daß Sie in artigen Verhältniſſen der Geſellig-
keit leben. Sind Sie aber auch dabei ökonomiſch? Ich ſehr.
Aber kein Plöter, kein Hartherz. Ich bin im Winter äußerſt
ſelten aus: ſehe nur Menſchen bei mir: oft häufig, dann we-
niger: immer etwas. — Leben Sie wohl; und in der Luft: und
ſehn Sie Veilchen, ſo grüßen Sie ſie von mir. Wir haben auch
jetzt welche im Winter.
Adieu! Ihre alte Fr. V.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/501>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.