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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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Alles mißfiel mir: außer gestern das Publikum. Plötzlich ganz
klug! Voller Urtheil und Takt. Mad. Esperstedt spielte in
Vollkommenheit eine Berliner Schlächterin: und abgewo-
gen
in fresco gehalten; besser und anders als die hiesige
Landschaftsdekorationen, die mich verzweifeln machen, weil sie
eine längst erfundene Kunst aufgeben. Und Akademie und
Stadt es leidet!!! --


-- Seit ich hier bin, war ich etwa viermal Abends aus.
Rheumatische Schmerzen, Unbehagen, völlige Niederlage bei
Feuchtigkeit u. s. w. also ich bleibe zu Hause, und es finden
sich Abendgäste ein: bleibt ein Abend leer, so gebrauch' ich
ihn zur Einsamkeit, Ruhe, Erholung, Sammlung; Erinn-
rung
!!! -- Ich habe also nicht Frau von Knorring (gebor-
nen Tieck) ihr Stück gesehen: kein Konzert, keine Canzi ge-
hört; habe mein Billet zum Requiem und Oratorium heute
bei Zelter zurückgesandt, weil Menschenluft für mich nicht zum
Ertragen ist, und Straßenfeuchtigkeit gar nicht. So sitze ich
denn und lebe; lese, warte. Es geht auch recht gut. Wenn
ich nur Einmal ein Gesundheitsgefühl haben könnte! Aber
auch ohne dies bin ich positiv zufrieden; mit gefühlter Ein-
sicht; wenn ich nur nicht Schmerzen habe und so krank
bin, wie ich schon oft war. Mein Herz -- mein persönliches
-- ist begraben; das ist die Hauptsache. Das kann nicht mehr
zum Narren gehabt werden. Es muß kuschen -- stoßen Sie
sich nicht an diesen vulgaren Ausdruck! -- Es hat keine Per-
son mehr zu versorgen: wenn es angestoßen wird, ist es für
Recht und Unrecht, für Mitleid; für seine Brüder: und für

Alles mißfiel mir: außer geſtern das Publikum. Plötzlich ganz
klug! Voller Urtheil und Takt. Mad. Esperſtedt ſpielte in
Vollkommenheit eine Berliner Schlächterin: und abgewo-
gen
in fresco gehalten; beſſer und anders als die hieſige
Landſchaftsdekorationen, die mich verzweifeln machen, weil ſie
eine längſt erfundene Kunſt aufgeben. Und Akademie und
Stadt es leidet!!! —


— Seit ich hier bin, war ich etwa viermal Abends aus.
Rheumatiſche Schmerzen, Unbehagen, völlige Niederlage bei
Feuchtigkeit u. ſ. w. alſo ich bleibe zu Hauſe, und es finden
ſich Abendgäſte ein: bleibt ein Abend leer, ſo gebrauch’ ich
ihn zur Einſamkeit, Ruhe, Erholung, Sammlung; Erinn-
rung
!!! — Ich habe alſo nicht Frau von Knorring (gebor-
nen Tieck) ihr Stück geſehen: kein Konzert, keine Canzi ge-
hört; habe mein Billet zum Requiem und Oratorium heute
bei Zelter zurückgeſandt, weil Menſchenluft für mich nicht zum
Ertragen iſt, und Straßenfeuchtigkeit gar nicht. So ſitze ich
denn und lebe; leſe, warte. Es geht auch recht gut. Wenn
ich nur Einmal ein Geſundheitsgefühl haben könnte! Aber
auch ohne dies bin ich poſitiv zufrieden; mit gefühlter Ein-
ſicht; wenn ich nur nicht Schmerzen habe und ſo krank
bin, wie ich ſchon oft war. Mein Herz — mein perſönliches
— iſt begraben; das iſt die Hauptſache. Das kann nicht mehr
zum Narren gehabt werden. Es muß kuſchen — ſtoßen Sie
ſich nicht an dieſen vulgaren Ausdruck! — Es hat keine Per-
ſon mehr zu verſorgen: wenn es angeſtoßen wird, iſt es für
Recht und Unrecht, für Mitleid; für ſeine Brüder: und für

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[50/0058] Alles mißfiel mir: außer geſtern das Publikum. Plötzlich ganz klug! Voller Urtheil und Takt. Mad. Esperſtedt ſpielte in Vollkommenheit eine Berliner Schlächterin: und abgewo- gen in fresco gehalten; beſſer und anders als die hieſige Landſchaftsdekorationen, die mich verzweifeln machen, weil ſie eine längſt erfundene Kunſt aufgeben. Und Akademie und Stadt es leidet!!! — November. — Seit ich hier bin, war ich etwa viermal Abends aus. Rheumatiſche Schmerzen, Unbehagen, völlige Niederlage bei Feuchtigkeit u. ſ. w. alſo ich bleibe zu Hauſe, und es finden ſich Abendgäſte ein: bleibt ein Abend leer, ſo gebrauch’ ich ihn zur Einſamkeit, Ruhe, Erholung, Sammlung; Erinn- rung!!! — Ich habe alſo nicht Frau von Knorring (gebor- nen Tieck) ihr Stück geſehen: kein Konzert, keine Canzi ge- hört; habe mein Billet zum Requiem und Oratorium heute bei Zelter zurückgeſandt, weil Menſchenluft für mich nicht zum Ertragen iſt, und Straßenfeuchtigkeit gar nicht. So ſitze ich denn und lebe; leſe, warte. Es geht auch recht gut. Wenn ich nur Einmal ein Geſundheitsgefühl haben könnte! Aber auch ohne dies bin ich poſitiv zufrieden; mit gefühlter Ein- ſicht; wenn ich nur nicht Schmerzen habe und ſo krank bin, wie ich ſchon oft war. Mein Herz — mein perſönliches — iſt begraben; das iſt die Hauptſache. Das kann nicht mehr zum Narren gehabt werden. Es muß kuſchen — ſtoßen Sie ſich nicht an dieſen vulgaren Ausdruck! — Es hat keine Per- ſon mehr zu verſorgen: wenn es angeſtoßen wird, iſt es für Recht und Unrecht, für Mitleid; für ſeine Brüder: und für

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/58>, abgerufen am 21.11.2024.