pathologischer Vorgänge zuzulassen, obwohl ich sie als ontologischen Begriff auflöse; ich muss trotz des entschiedenen Widerspruchs vieler Forscher den Tu- berkel als miliares Korn, das Epitheliom als hetero- plastische, maligne Neubildung (Cancroid) festhalten.
Vielleicht ist es in heutiger Zeit ein Verdienst, das historische Recht anzuerkennen, denn es ist in der That erstaunlich, mit welchem Leichtsinn gerade diejenigen, welche jede Kleinigkeit, die sie gefunden haben, als eine Entdeckung preisen, über die Vorfahren aburtheilen. Ich halte auf mein Recht und darum er- kenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht zu vertheidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft unserer individuellen Entwickelung und unseres Ein- flusses auf das Allgemeine. Eine solche Vertheidi- gung ist keine That eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wis- sen, sondern auch in der Schätzung der Anderen. Diese Schätzung aber beruht zum grossen Theile auf der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen, das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte.
In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft, wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte conserviren und das Neue hinzufügen. Aber den Zeitge-
Vorrede.
pathologischer Vorgänge zuzulassen, obwohl ich sie als ontologischen Begriff auflöse; ich muss trotz des entschiedenen Widerspruchs vieler Forscher den Tu- berkel als miliares Korn, das Epitheliom als hetero- plastische, maligne Neubildung (Cancroid) festhalten.
Vielleicht ist es in heutiger Zeit ein Verdienst, das historische Recht anzuerkennen, denn es ist in der That erstaunlich, mit welchem Leichtsinn gerade diejenigen, welche jede Kleinigkeit, die sie gefunden haben, als eine Entdeckung preisen, über die Vorfahren aburtheilen. Ich halte auf mein Recht und darum er- kenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht zu vertheidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft unserer individuellen Entwickelung und unseres Ein- flusses auf das Allgemeine. Eine solche Vertheidi- gung ist keine That eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wis- sen, sondern auch in der Schätzung der Anderen. Diese Schätzung aber beruht zum grossen Theile auf der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen, das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte.
In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft, wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte conserviren und das Neue hinzufügen. Aber den Zeitge-
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[VIII/0014]
Vorrede.
pathologischer Vorgänge zuzulassen, obwohl ich sie
als ontologischen Begriff auflöse; ich muss trotz des
entschiedenen Widerspruchs vieler Forscher den Tu-
berkel als miliares Korn, das Epitheliom als hetero-
plastische, maligne Neubildung (Cancroid) festhalten.
Vielleicht ist es in heutiger Zeit ein Verdienst,
das historische Recht anzuerkennen, denn es ist in
der That erstaunlich, mit welchem Leichtsinn gerade
diejenigen, welche jede Kleinigkeit, die sie gefunden
haben, als eine Entdeckung preisen, über die Vorfahren
aburtheilen. Ich halte auf mein Recht und darum er-
kenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist
mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der
Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht
zu vertheidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft
unserer individuellen Entwickelung und unseres Ein-
flusses auf das Allgemeine. Eine solche Vertheidi-
gung ist keine That eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben
des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir
der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie
auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wis-
sen, sondern auch in der Schätzung der Anderen.
Diese Schätzung aber beruht zum grossen Theile auf
der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen,
das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das
ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte.
In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft,
wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens
der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die
Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der
Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die
Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte
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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/14>, abgerufen am 23.11.2024.
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