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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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den Grundcharakter. Es ist zwar nun erst der Begriff des Ganzen näher
zu bestimmen, wie er zwar durch diese Bemerkungen bereits eingeleitet ist.

§. 189.

Das Erhabene, das in diesem Vorgange dem Komischen verfällt, ist daher1
immer bereits selbst ein solches, dessen geistiger Mittelpunkt nicht als solcher
zum Bewußtseyn kommt, sondern in fester Gestalt verkörpert ist. Daher wird
allerdings besonders die Sphäre der Kraft, des Anstands, der äußeren Zweck-
mäßigkeit, der Leidenschaft den Stoff bilden, aber ebenso auch die höchsten
Gebiete, nur immer in handgreiflich verleiblichter Erscheinung. Der Gegenstoß,2
an dem dieses Erhabene scheitert und welcher hier häufiger von außen als von
innen kommt, wird daher nothwendig je zu den niedrigeren und gröbsten Formen
des Daseyns (vergl. §. 171) zurückgreifen und den Anstand nicht nur da, wo
der Kampf gegen ihn als erstes Glied ausdrücklich geht, auf's Derbste verletzen;
der Naturgrund, womit das Subject behaftet ist, wird völlig durchwühlt, um
sich von ihm zu befreien. Aus diesem Grunde sowohl (vergl. §. 159, 3), als
auch in dem weiteren Sinne des Unbewußten, das aber ebenfalls hier nicht blos
(wie §. 159, 2) im Gegengliede, sondern im ganzen Prozesse herrscht, kann diese
ganze Form als vorzüglich naiv bezeichnet werden.

1. In der Kraft ist innere, qualitative Unendlichkeit, aber bewußtlos.
Nichts ist der Posse lieber als Scherz über die Verirrungen bildender
Naturkraft, welche sie z. B. gern und glücklich in's Mechanische herabzieht.
Rechnet man die Sprache zu den organischen Kraftwirkungen (sofern
nicht eben ihre höhere Bedeutung für die Intelligenz in Anschlag kommt),
so ist das Stottern eine hierüber besonders belehrende Figur. In dem
Schwanke, der in der Schr. über d. Erh. u. Kom. S. 194 erzählt ist,
fängt sich ein Wort wie eingespannt in der Kehle und fliegt dann wie ein
Knebel heraus. Es ist dies nicht das gewöhnliche Stottern, sondern die
andere Form, womit Leute behaftet sind, die den Uebergang vom Athmen
zu der Verwendung des Athems, welche das Sprechen verlangt, nachdem
sie irgend einmal ihn nicht fanden, nie wieder in's Geleise bringen können.
Das gewöhnliche Stottern tritt stehend im Stentorello des Theaters S.
Carlino zu Neapel auf. Auf dem Komischen des in Mechanismus ver-
sinkenden Organischen ruht großentheils die ergötzliche Wirkung der
Marionetten und der Puppen im Puleinellkasten. In der lebendigen
Darstellung der verschiedensten Körpergebrechen, jeder Ungeschicklichkeit,

den Grundcharakter. Es iſt zwar nun erſt der Begriff des Ganzen näher
zu beſtimmen, wie er zwar durch dieſe Bemerkungen bereits eingeleitet iſt.

§. 189.

Das Erhabene, das in dieſem Vorgange dem Komiſchen verfällt, iſt daher1
immer bereits ſelbſt ein ſolches, deſſen geiſtiger Mittelpunkt nicht als ſolcher
zum Bewußtſeyn kommt, ſondern in feſter Geſtalt verkörpert iſt. Daher wird
allerdings beſonders die Sphäre der Kraft, des Anſtands, der äußeren Zweck-
mäßigkeit, der Leidenſchaft den Stoff bilden, aber ebenſo auch die höchſten
Gebiete, nur immer in handgreiflich verleiblichter Erſcheinung. Der Gegenſtoß,2
an dem dieſes Erhabene ſcheitert und welcher hier häufiger von außen als von
innen kommt, wird daher nothwendig je zu den niedrigeren und gröbſten Formen
des Daſeyns (vergl. §. 171) zurückgreifen und den Anſtand nicht nur da, wo
der Kampf gegen ihn als erſtes Glied ausdrücklich geht, auf’s Derbſte verletzen;
der Naturgrund, womit das Subject behaftet iſt, wird völlig durchwühlt, um
ſich von ihm zu befreien. Aus dieſem Grunde ſowohl (vergl. §. 159, 3), als
auch in dem weiteren Sinne des Unbewußten, das aber ebenfalls hier nicht blos
(wie §. 159, 2) im Gegengliede, ſondern im ganzen Prozeſſe herrſcht, kann dieſe
ganze Form als vorzüglich naiv bezeichnet werden.

1. In der Kraft iſt innere, qualitative Unendlichkeit, aber bewußtlos.
Nichts iſt der Poſſe lieber als Scherz über die Verirrungen bildender
Naturkraft, welche ſie z. B. gern und glücklich in’s Mechaniſche herabzieht.
Rechnet man die Sprache zu den organiſchen Kraftwirkungen (ſofern
nicht eben ihre höhere Bedeutung für die Intelligenz in Anſchlag kommt),
ſo iſt das Stottern eine hierüber beſonders belehrende Figur. In dem
Schwanke, der in der Schr. über d. Erh. u. Kom. S. 194 erzählt iſt,
fängt ſich ein Wort wie eingeſpannt in der Kehle und fliegt dann wie ein
Knebel heraus. Es iſt dies nicht das gewöhnliche Stottern, ſondern die
andere Form, womit Leute behaftet ſind, die den Uebergang vom Athmen
zu der Verwendung des Athems, welche das Sprechen verlangt, nachdem
ſie irgend einmal ihn nicht fanden, nie wieder in’s Geleiſe bringen können.
Das gewöhnliche Stottern tritt ſtehend im Stentorello des Theaters S.
Carlino zu Neapel auf. Auf dem Komiſchen des in Mechanismus ver-
ſinkenden Organiſchen ruht großentheils die ergötzliche Wirkung der
Marionetten und der Puppen im Puleinellkaſten. In der lebendigen
Darſtellung der verſchiedenſten Körpergebrechen, jeder Ungeſchicklichkeit,

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[411/0425] den Grundcharakter. Es iſt zwar nun erſt der Begriff des Ganzen näher zu beſtimmen, wie er zwar durch dieſe Bemerkungen bereits eingeleitet iſt. §. 189. Das Erhabene, das in dieſem Vorgange dem Komiſchen verfällt, iſt daher immer bereits ſelbſt ein ſolches, deſſen geiſtiger Mittelpunkt nicht als ſolcher zum Bewußtſeyn kommt, ſondern in feſter Geſtalt verkörpert iſt. Daher wird allerdings beſonders die Sphäre der Kraft, des Anſtands, der äußeren Zweck- mäßigkeit, der Leidenſchaft den Stoff bilden, aber ebenſo auch die höchſten Gebiete, nur immer in handgreiflich verleiblichter Erſcheinung. Der Gegenſtoß, an dem dieſes Erhabene ſcheitert und welcher hier häufiger von außen als von innen kommt, wird daher nothwendig je zu den niedrigeren und gröbſten Formen des Daſeyns (vergl. §. 171) zurückgreifen und den Anſtand nicht nur da, wo der Kampf gegen ihn als erſtes Glied ausdrücklich geht, auf’s Derbſte verletzen; der Naturgrund, womit das Subject behaftet iſt, wird völlig durchwühlt, um ſich von ihm zu befreien. Aus dieſem Grunde ſowohl (vergl. §. 159, 3), als auch in dem weiteren Sinne des Unbewußten, das aber ebenfalls hier nicht blos (wie §. 159, 2) im Gegengliede, ſondern im ganzen Prozeſſe herrſcht, kann dieſe ganze Form als vorzüglich naiv bezeichnet werden. 1. In der Kraft iſt innere, qualitative Unendlichkeit, aber bewußtlos. Nichts iſt der Poſſe lieber als Scherz über die Verirrungen bildender Naturkraft, welche ſie z. B. gern und glücklich in’s Mechaniſche herabzieht. Rechnet man die Sprache zu den organiſchen Kraftwirkungen (ſofern nicht eben ihre höhere Bedeutung für die Intelligenz in Anſchlag kommt), ſo iſt das Stottern eine hierüber beſonders belehrende Figur. In dem Schwanke, der in der Schr. über d. Erh. u. Kom. S. 194 erzählt iſt, fängt ſich ein Wort wie eingeſpannt in der Kehle und fliegt dann wie ein Knebel heraus. Es iſt dies nicht das gewöhnliche Stottern, ſondern die andere Form, womit Leute behaftet ſind, die den Uebergang vom Athmen zu der Verwendung des Athems, welche das Sprechen verlangt, nachdem ſie irgend einmal ihn nicht fanden, nie wieder in’s Geleiſe bringen können. Das gewöhnliche Stottern tritt ſtehend im Stentorello des Theaters S. Carlino zu Neapel auf. Auf dem Komiſchen des in Mechanismus ver- ſinkenden Organiſchen ruht großentheils die ergötzliche Wirkung der Marionetten und der Puppen im Puleinellkaſten. In der lebendigen Darſtellung der verſchiedenſten Körpergebrechen, jeder Ungeſchicklichkeit,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/425>, abgerufen am 22.11.2024.