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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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den Ansicht, in welcher Beziehung die Stelle zum Theil schon angeführt
wurde -- von jenem Dithyrambus, welcher im Hohlspiegel eckig und
lang die Sinnenwelt auseinanderziehe; -- "insofern ein solcher jüngster
Tag die sinnliche Welt zu einem zweiten Chaos ineinanderwirft -- blos
um göttlich Gericht zu halten --, der Verstand aber nur in einem
ordentlich eingerichteten Weltgebäude wohnen kann, indeß die Vernunft,
wie Gott, nicht einmal im größten Tempel eingeschlossen ist: insofern
ließe sich eine scheinbare Angrenzung des Humors an den Wahnsinn
denken, welcher natürlich, wie der Philosoph künstlich, von Sinnen und
von Verstande kommt und doch wie dieser Vernunft behält. Der Humor
ist, wie die Alten den Diogenes nannten, ein rasender Sokrates"
(a. a. O. §. 35). Dieser Schein des Wahnsinns gehört so zur Sache,
daß er nun als wesentlicher Zug aufzunehmen ist.

§. 215.

Erwägt man nun, wie der Humor den Doppelschein seines Bewußtseyns
als stetige Weltanschauung in sich trägt und in diesem Lichte Alles anschaut
und aufzeigt, was dem gewöhnlichen Bewußtseyn als gerade und richtige Existenz
vorkommt, wie er, um diese Weltanschauung geltend zu machen, sich in allen
Formen der Posse und des Witzes in unendlichen Uebergängen herumwirft, so
begreift sich, wie er dem gemeinen Verstande sich als Wahnsinn darstellen muß.
Allerdings aber verliert er, stets von sich ausgehend, in seinen eigenen Wider-
spruch vertieft und nur dessen Widerschein in der Welt aufsuchend, den einfachen
Blick in die Objectivität, und sein Ich, wiewohl nicht im Sinne der Selbstliebe,
sondern der Selbstverlachung, spielt in seiner Aeußerung überall die erste Rolle,
so daß zwar er selbst, aber nicht seine Darstellung ein Ganzes ist.

Die Berührung der Humors mit dem Wahnsinn bedarf nach dem,
was hier und schon zum vorh. §. gesagt ist, keiner weitern Auseinan-
dersetzung. Der subjective Eigensinn aber, der kein Ding läßt, wie es
ist, nie bei der Sache aushält, nie die Geduld hat, ein Ganzes zu
geben, sondern überall von sich ausgeht, auf sich zurückkommt und so die
Sache verschiebt und durcheinanderwirft, gehört, so könnte es scheinen,
als ein künstlerischer Mangel in die Lehre von der Kunst. Man erinnert
sich dabei sogleich an Sternes und Jean Pauls ermüdende Episoden,
Geschwätzigkeit, Selbsteinmischung, unendliche Parabasen. Allein dies
Alles ist ebenso vorhanden, wenn man den Humoristen nicht als Künstler,
sondern nur als Menschen betrachtet; der Uebergang von der unmittel-

den Anſicht, in welcher Beziehung die Stelle zum Theil ſchon angeführt
wurde — von jenem Dithyrambus, welcher im Hohlſpiegel eckig und
lang die Sinnenwelt auseinanderziehe; — „inſofern ein ſolcher jüngſter
Tag die ſinnliche Welt zu einem zweiten Chaos ineinanderwirft — blos
um göttlich Gericht zu halten —, der Verſtand aber nur in einem
ordentlich eingerichteten Weltgebäude wohnen kann, indeß die Vernunft,
wie Gott, nicht einmal im größten Tempel eingeſchloſſen iſt: inſofern
ließe ſich eine ſcheinbare Angrenzung des Humors an den Wahnſinn
denken, welcher natürlich, wie der Philoſoph künſtlich, von Sinnen und
von Verſtande kommt und doch wie dieſer Vernunft behält. Der Humor
iſt, wie die Alten den Diogenes nannten, ein raſender Sokrates“
(a. a. O. §. 35). Dieſer Schein des Wahnſinns gehört ſo zur Sache,
daß er nun als weſentlicher Zug aufzunehmen iſt.

§. 215.

Erwägt man nun, wie der Humor den Doppelſchein ſeines Bewußtſeyns
als ſtetige Weltanſchauung in ſich trägt und in dieſem Lichte Alles anſchaut
und aufzeigt, was dem gewöhnlichen Bewußtſeyn als gerade und richtige Exiſtenz
vorkommt, wie er, um dieſe Weltanſchauung geltend zu machen, ſich in allen
Formen der Poſſe und des Witzes in unendlichen Uebergängen herumwirft, ſo
begreift ſich, wie er dem gemeinen Verſtande ſich als Wahnſinn darſtellen muß.
Allerdings aber verliert er, ſtets von ſich ausgehend, in ſeinen eigenen Wider-
ſpruch vertieft und nur deſſen Widerſchein in der Welt aufſuchend, den einfachen
Blick in die Objectivität, und ſein Ich, wiewohl nicht im Sinne der Selbſtliebe,
ſondern der Selbſtverlachung, ſpielt in ſeiner Aeußerung überall die erſte Rolle,
ſo daß zwar er ſelbſt, aber nicht ſeine Darſtellung ein Ganzes iſt.

Die Berührung der Humors mit dem Wahnſinn bedarf nach dem,
was hier und ſchon zum vorh. §. geſagt iſt, keiner weitern Auseinan-
derſetzung. Der ſubjective Eigenſinn aber, der kein Ding läßt, wie es
iſt, nie bei der Sache aushält, nie die Geduld hat, ein Ganzes zu
geben, ſondern überall von ſich ausgeht, auf ſich zurückkommt und ſo die
Sache verſchiebt und durcheinanderwirft, gehört, ſo könnte es ſcheinen,
als ein künſtleriſcher Mangel in die Lehre von der Kunſt. Man erinnert
ſich dabei ſogleich an Sternes und Jean Pauls ermüdende Epiſoden,
Geſchwätzigkeit, Selbſteinmiſchung, unendliche Parabaſen. Allein dies
Alles iſt ebenſo vorhanden, wenn man den Humoriſten nicht als Künſtler,
ſondern nur als Menſchen betrachtet; der Uebergang von der unmittel-

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[458/0472] den Anſicht, in welcher Beziehung die Stelle zum Theil ſchon angeführt wurde — von jenem Dithyrambus, welcher im Hohlſpiegel eckig und lang die Sinnenwelt auseinanderziehe; — „inſofern ein ſolcher jüngſter Tag die ſinnliche Welt zu einem zweiten Chaos ineinanderwirft — blos um göttlich Gericht zu halten —, der Verſtand aber nur in einem ordentlich eingerichteten Weltgebäude wohnen kann, indeß die Vernunft, wie Gott, nicht einmal im größten Tempel eingeſchloſſen iſt: inſofern ließe ſich eine ſcheinbare Angrenzung des Humors an den Wahnſinn denken, welcher natürlich, wie der Philoſoph künſtlich, von Sinnen und von Verſtande kommt und doch wie dieſer Vernunft behält. Der Humor iſt, wie die Alten den Diogenes nannten, ein raſender Sokrates“ (a. a. O. §. 35). Dieſer Schein des Wahnſinns gehört ſo zur Sache, daß er nun als weſentlicher Zug aufzunehmen iſt. §. 215. Erwägt man nun, wie der Humor den Doppelſchein ſeines Bewußtſeyns als ſtetige Weltanſchauung in ſich trägt und in dieſem Lichte Alles anſchaut und aufzeigt, was dem gewöhnlichen Bewußtſeyn als gerade und richtige Exiſtenz vorkommt, wie er, um dieſe Weltanſchauung geltend zu machen, ſich in allen Formen der Poſſe und des Witzes in unendlichen Uebergängen herumwirft, ſo begreift ſich, wie er dem gemeinen Verſtande ſich als Wahnſinn darſtellen muß. Allerdings aber verliert er, ſtets von ſich ausgehend, in ſeinen eigenen Wider- ſpruch vertieft und nur deſſen Widerſchein in der Welt aufſuchend, den einfachen Blick in die Objectivität, und ſein Ich, wiewohl nicht im Sinne der Selbſtliebe, ſondern der Selbſtverlachung, ſpielt in ſeiner Aeußerung überall die erſte Rolle, ſo daß zwar er ſelbſt, aber nicht ſeine Darſtellung ein Ganzes iſt. Die Berührung der Humors mit dem Wahnſinn bedarf nach dem, was hier und ſchon zum vorh. §. geſagt iſt, keiner weitern Auseinan- derſetzung. Der ſubjective Eigenſinn aber, der kein Ding läßt, wie es iſt, nie bei der Sache aushält, nie die Geduld hat, ein Ganzes zu geben, ſondern überall von ſich ausgeht, auf ſich zurückkommt und ſo die Sache verſchiebt und durcheinanderwirft, gehört, ſo könnte es ſcheinen, als ein künſtleriſcher Mangel in die Lehre von der Kunſt. Man erinnert ſich dabei ſogleich an Sternes und Jean Pauls ermüdende Epiſoden, Geſchwätzigkeit, Selbſteinmiſchung, unendliche Parabaſen. Allein dies Alles iſt ebenſo vorhanden, wenn man den Humoriſten nicht als Künſtler, ſondern nur als Menſchen betrachtet; der Uebergang von der unmittel-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/472>, abgerufen am 22.11.2024.