Die erste große Gruppe der Vögel umfaßt diejenigen, welche wesentlich1 zum Fluge gebaut sind und in welchen daher das eigentlich Vogelartige sich darstellt. In ihr tritt der Gegensatz des zahmen und des Raubthiers in seiner2 ganzen Bestimmtheit auf. Sie begreift zunächst die große Masse der kleineren Vögel, durch Gesang oder Farbe ausgezeichnet, die meisten zierlich von Gestalt, höchst rührig und lebhaft von Bewegung. Dagegen sind die Raubvögel eintönig3 an Stimme, schmuckloser an Farbe, mächtig und aufrecht von Gestalt, hell von Augen, drohend durch Waffen, majestätisch im Flug, charaktervoll im Ausdruck, ernst, still und grausam von Temperament.
1. Die Eintheilung der Vögel, die hier in Kürze versucht wird, führt auf einen interessanten Punkt, der vielleicht auf die schwierige Frage über die Durchführung einer Stufenfolge in der Natur einiges Licht ver- breiten könnte. Wir werden nämlich auf die eigentlichen Luftvögel die Schwimm- und Sumpf-Vögel, dann die Landvögel, d. h. die fast allein zum Gehen bestimmten folgen lassen. Betrachtet man nun den Vogel an sich, so ist sein Typus natürlich in den wesentlich zum Fluge bestimmten oder Luftvögeln am reinsten ausgebildet, daher diese am höchsten stehen müßten, wie sie denn gewiß die schönsten Vögel sind. Allein es bilden sich in den weniger schönen, meist unbehülflichen Wasser- und Land-Vögeln Eigenschaften aus, wodurch dieselben dem Säugethiere näher treten, theils psychische, theils organische; so daß, wenn man den Zusammenhang des Thierreichs im Großen in's Auge faßt, diese höher stehen, obwohl sie an Gestalt weniger edel sind. Je mehr der Vogel aus der Luft herabkommt und sich an das Feste hält, desto bedeutender ist seine Organisation. Daraus erhellt, daß die Natur, indem sie ein Stufensystem baut, keines- wegs nach allen Seiten die höhere Stufe über die niedrigere stellt. Während sie auf einer Seite fortschreitet, läßt sie auf der andern wieder fallen und erst in weiteren Knotenpunkten vereinigt sie das im Fortschritt Gewonnene wieder mit dem früher Verlorenen. Der Strauß ist ein ungeschickter Vogel, weil er sich in Vielem vom Vogel entfernt und doch noch kein Säugthier ist; ist aber einmal das Säugthier da, so tritt wieder die Ganzheit und Zusammengehörigkeit der Gestalt ein, welche in seiner Art der Luftvogel hat. Die Natur geht also zwar an den Hauptpunkten ihres Systems aufwärts, zwischen dem Aufwärts aber beziehungsweise auch wieder abwärts. Dieser Satz sagt noch etwas Anderes aus, als der oft angeführte in §. 18, 1. Der letztere spricht von niedrigeren Stufen des höheren Gebiets, nun aber ist von Zwischenstufen die Rede, welche nach den schon erstiegenen höheren eines Gebiets wieder
§. 304.
Die erſte große Gruppe der Vögel umfaßt diejenigen, welche weſentlich1 zum Fluge gebaut ſind und in welchen daher das eigentlich Vogelartige ſich darſtellt. In ihr tritt der Gegenſatz des zahmen und des Raubthiers in ſeiner2 ganzen Beſtimmtheit auf. Sie begreift zunächſt die große Maſſe der kleineren Vögel, durch Geſang oder Farbe ausgezeichnet, die meiſten zierlich von Geſtalt, höchſt rührig und lebhaft von Bewegung. Dagegen ſind die Raubvögel eintönig3 an Stimme, ſchmuckloſer an Farbe, mächtig und aufrecht von Geſtalt, hell von Augen, drohend durch Waffen, majeſtätiſch im Flug, charaktervoll im Ausdruck, ernſt, ſtill und grauſam von Temperament.
1. Die Eintheilung der Vögel, die hier in Kürze verſucht wird, führt auf einen intereſſanten Punkt, der vielleicht auf die ſchwierige Frage über die Durchführung einer Stufenfolge in der Natur einiges Licht ver- breiten könnte. Wir werden nämlich auf die eigentlichen Luftvögel die Schwimm- und Sumpf-Vögel, dann die Landvögel, d. h. die faſt allein zum Gehen beſtimmten folgen laſſen. Betrachtet man nun den Vogel an ſich, ſo iſt ſein Typus natürlich in den weſentlich zum Fluge beſtimmten oder Luftvögeln am reinſten ausgebildet, daher dieſe am höchſten ſtehen müßten, wie ſie denn gewiß die ſchönſten Vögel ſind. Allein es bilden ſich in den weniger ſchönen, meiſt unbehülflichen Waſſer- und Land-Vögeln Eigenſchaften aus, wodurch dieſelben dem Säugethiere näher treten, theils pſychiſche, theils organiſche; ſo daß, wenn man den Zuſammenhang des Thierreichs im Großen in’s Auge faßt, dieſe höher ſtehen, obwohl ſie an Geſtalt weniger edel ſind. Je mehr der Vogel aus der Luft herabkommt und ſich an das Feſte hält, deſto bedeutender iſt ſeine Organiſation. Daraus erhellt, daß die Natur, indem ſie ein Stufenſyſtem baut, keines- wegs nach allen Seiten die höhere Stufe über die niedrigere ſtellt. Während ſie auf einer Seite fortſchreitet, läßt ſie auf der andern wieder fallen und erſt in weiteren Knotenpunkten vereinigt ſie das im Fortſchritt Gewonnene wieder mit dem früher Verlorenen. Der Strauß iſt ein ungeſchickter Vogel, weil er ſich in Vielem vom Vogel entfernt und doch noch kein Säugthier iſt; iſt aber einmal das Säugthier da, ſo tritt wieder die Ganzheit und Zuſammengehörigkeit der Geſtalt ein, welche in ſeiner Art der Luftvogel hat. Die Natur geht alſo zwar an den Hauptpunkten ihres Syſtems aufwärts, zwiſchen dem Aufwärts aber beziehungsweiſe auch wieder abwärts. Dieſer Satz ſagt noch etwas Anderes aus, als der oft angeführte in §. 18, 1. Der letztere ſpricht von niedrigeren Stufen des höheren Gebiets, nun aber iſt von Zwiſchenſtufen die Rede, welche nach den ſchon erſtiegenen höheren eines Gebiets wieder
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§. 304.
Die erſte große Gruppe der Vögel umfaßt diejenigen, welche weſentlich
zum Fluge gebaut ſind und in welchen daher das eigentlich Vogelartige ſich
darſtellt. In ihr tritt der Gegenſatz des zahmen und des Raubthiers in ſeiner
ganzen Beſtimmtheit auf. Sie begreift zunächſt die große Maſſe der kleineren
Vögel, durch Geſang oder Farbe ausgezeichnet, die meiſten zierlich von Geſtalt,
höchſt rührig und lebhaft von Bewegung. Dagegen ſind die Raubvögel eintönig
an Stimme, ſchmuckloſer an Farbe, mächtig und aufrecht von Geſtalt, hell von
Augen, drohend durch Waffen, majeſtätiſch im Flug, charaktervoll im Ausdruck,
ernſt, ſtill und grauſam von Temperament.
1. Die Eintheilung der Vögel, die hier in Kürze verſucht wird,
führt auf einen intereſſanten Punkt, der vielleicht auf die ſchwierige Frage
über die Durchführung einer Stufenfolge in der Natur einiges Licht ver-
breiten könnte. Wir werden nämlich auf die eigentlichen Luftvögel die
Schwimm- und Sumpf-Vögel, dann die Landvögel, d. h. die faſt allein
zum Gehen beſtimmten folgen laſſen. Betrachtet man nun den Vogel an
ſich, ſo iſt ſein Typus natürlich in den weſentlich zum Fluge beſtimmten
oder Luftvögeln am reinſten ausgebildet, daher dieſe am höchſten ſtehen
müßten, wie ſie denn gewiß die ſchönſten Vögel ſind. Allein es bilden
ſich in den weniger ſchönen, meiſt unbehülflichen Waſſer- und Land-Vögeln
Eigenſchaften aus, wodurch dieſelben dem Säugethiere näher treten, theils
pſychiſche, theils organiſche; ſo daß, wenn man den Zuſammenhang des
Thierreichs im Großen in’s Auge faßt, dieſe höher ſtehen, obwohl ſie an
Geſtalt weniger edel ſind. Je mehr der Vogel aus der Luft herabkommt
und ſich an das Feſte hält, deſto bedeutender iſt ſeine Organiſation.
Daraus erhellt, daß die Natur, indem ſie ein Stufenſyſtem baut, keines-
wegs nach allen Seiten die höhere Stufe über die niedrigere ſtellt.
Während ſie auf einer Seite fortſchreitet, läßt ſie auf der andern wieder
fallen und erſt in weiteren Knotenpunkten vereinigt ſie das im Fortſchritt
Gewonnene wieder mit dem früher Verlorenen. Der Strauß iſt ein
ungeſchickter Vogel, weil er ſich in Vielem vom Vogel entfernt und doch
noch kein Säugthier iſt; iſt aber einmal das Säugthier da, ſo tritt
wieder die Ganzheit und Zuſammengehörigkeit der Geſtalt ein, welche
in ſeiner Art der Luftvogel hat. Die Natur geht alſo zwar an den
Hauptpunkten ihres Syſtems aufwärts, zwiſchen dem Aufwärts aber
beziehungsweiſe auch wieder abwärts. Dieſer Satz ſagt noch etwas
Anderes aus, als der oft angeführte in §. 18, 1. Der letztere ſpricht von
niedrigeren Stufen des höheren Gebiets, nun aber iſt von Zwiſchenſtufen
die Rede, welche nach den ſchon erſtiegenen höheren eines Gebiets wieder
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/149>, abgerufen am 16.02.2025.
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