Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Gefühl und Einsicht des Zweckwidrigen, aber keinen Eckel und Abscheu 3. Die Einschränkungen, welche hier mit Verweisung auf §. 18
Gefühl und Einſicht des Zweckwidrigen, aber keinen Eckel und Abſcheu 3. Die Einſchränkungen, welche hier mit Verweiſung auf §. 18 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0027" n="15"/> Gefühl und Einſicht des Zweckwidrigen, aber keinen Eckel und Abſcheu<lb/> kennt, weil ſie nicht bei der Oberfläche verweilt, ſondern wiſſen will, was<lb/> hinter ihr ſei, der Gegenſtand einer beſonderen Unterſuchung, wodurch für<lb/> die Wiſſenſchaft des höheren organiſchen Lebens ein ſelbſtändiger Zweig,<lb/> die Pathologie, bedingt iſt. Dieſe führt nun zur praktiſchen Medizin und<lb/> hier wird der Gegenſatz gegen die Aeſthetik vollkommen. Wenn nämlich<lb/> ſchon die blos theoretiſche Betrachtung der Naturwiſſenſchaft gegenüber<lb/> dem Standpunkte der Aeſthetik darum ſtoffartig iſt, weil die getrennten<lb/> und zerlegten Organe in den Geſichtspunkt der Zweckmäßigkeit fallen<lb/> (§. 54), ſo wird nun aus dieſem wirklich Ernſt gemacht in der Heilkunde,<lb/> der Arzt aber und der äſthetiſch Betrachtende ſtehen ſich ſo gegenüber,<lb/> daß ſie einander reichlichen Stoff zum Lachen geben. Wenn nun ſo die<lb/> Naturwiſſenſchaft das Entartete, was für die äſthetiſche Anſchauung häßlich<lb/> iſt, einem theoretiſchen oder praktiſchen Intereſſe unterwirft, das mit dem<lb/> Gefühle des Häßlichen gar nichts zu ſchaffen hat, vielmehr durch eine<lb/> Verwechslung der Ausdrücke das Häßliche ſogar ſchön (ſtatt: belehrend)<lb/> nennen kann, ſo vermag allerdings auch die Aeſthetik dem Häßlichen einen<lb/> Werth abzugewinnen, wenn es nämlich einen Uebergang in das Erhabene<lb/> oder Komiſche darbietet; es leuchtet aber ein, daß dieß ein ganz anderer<lb/> Weg iſt, als der, den die Naturwiſſenſchaft einſchlägt. Dort erhält ſich<lb/> Eckel und Abſcheu, nur aber als bloßes Moment, als <hi rendition="#g">Hebel</hi> eines<lb/> anderweitigen, verſöhnenden Gefühls, das Häßliche bleibt häßlich und<lb/> wird nur zugleich etwas Anderes, hier aber, für die Naturwiſſenſchaft,<lb/> iſt das Häßliche gar nicht vorhanden. Dieß iſt nun auf gleiche Weiſe<lb/> der Fall bei normalen, aber an ſich verworrenen, wie bei ſolchen Bildungen,<lb/> die durch abnormen Zuſtand entſtellt ſind; von den erſteren reden wir in<lb/> der folg. Anmerkung und dieß wird zu näherer Beleuchtung dieſes ganzen<lb/> Unterſchieds im Standpunkte des naturwiſſenſchaftlichen und äſthetiſchen<lb/> Gebietes führen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">3. Die Einſchränkungen, welche hier mit Verweiſung auf §. 18<lb/> wieder genannt werden, treten namentlich in der Thierwelt hervor und<lb/> werden beſtimmter angegeben werden, wenn von dieſer die Rede iſt. Für<lb/> die Naturwiſſenſchaft iſt ein von Hauſe aus verworren gebildetes Thier<lb/> ebenſowenig häßlich, als ein durch Lebensſtörungen entſtelltes; ſie begreift<lb/> die Bildung einer Fledermaus, eines Krokodils als etwas, was auf dieſer<lb/> Stufe nicht anders ſein kann. Allerdings muß zwar auch ſie die Bildung<lb/> dieſer und anderer Uebergangsſtufen als ſolche erkennen, welche zu einer<lb/> auffallend widerſprechenden Einheit Organe in ſich vereinigen, die in<lb/> reinerer, ebnerer, flüſſigerer Verbindung anderen Ordnungen angehören;<lb/> nur nennt ſie dieſe widerſtrebenden Verbindungen nicht häßlich. Das Ver-<lb/> hältniß wäre alſo hier daſſelbe, wie bei abnormen Entſtellungen: wie<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [15/0027]
Gefühl und Einſicht des Zweckwidrigen, aber keinen Eckel und Abſcheu
kennt, weil ſie nicht bei der Oberfläche verweilt, ſondern wiſſen will, was
hinter ihr ſei, der Gegenſtand einer beſonderen Unterſuchung, wodurch für
die Wiſſenſchaft des höheren organiſchen Lebens ein ſelbſtändiger Zweig,
die Pathologie, bedingt iſt. Dieſe führt nun zur praktiſchen Medizin und
hier wird der Gegenſatz gegen die Aeſthetik vollkommen. Wenn nämlich
ſchon die blos theoretiſche Betrachtung der Naturwiſſenſchaft gegenüber
dem Standpunkte der Aeſthetik darum ſtoffartig iſt, weil die getrennten
und zerlegten Organe in den Geſichtspunkt der Zweckmäßigkeit fallen
(§. 54), ſo wird nun aus dieſem wirklich Ernſt gemacht in der Heilkunde,
der Arzt aber und der äſthetiſch Betrachtende ſtehen ſich ſo gegenüber,
daß ſie einander reichlichen Stoff zum Lachen geben. Wenn nun ſo die
Naturwiſſenſchaft das Entartete, was für die äſthetiſche Anſchauung häßlich
iſt, einem theoretiſchen oder praktiſchen Intereſſe unterwirft, das mit dem
Gefühle des Häßlichen gar nichts zu ſchaffen hat, vielmehr durch eine
Verwechslung der Ausdrücke das Häßliche ſogar ſchön (ſtatt: belehrend)
nennen kann, ſo vermag allerdings auch die Aeſthetik dem Häßlichen einen
Werth abzugewinnen, wenn es nämlich einen Uebergang in das Erhabene
oder Komiſche darbietet; es leuchtet aber ein, daß dieß ein ganz anderer
Weg iſt, als der, den die Naturwiſſenſchaft einſchlägt. Dort erhält ſich
Eckel und Abſcheu, nur aber als bloßes Moment, als Hebel eines
anderweitigen, verſöhnenden Gefühls, das Häßliche bleibt häßlich und
wird nur zugleich etwas Anderes, hier aber, für die Naturwiſſenſchaft,
iſt das Häßliche gar nicht vorhanden. Dieß iſt nun auf gleiche Weiſe
der Fall bei normalen, aber an ſich verworrenen, wie bei ſolchen Bildungen,
die durch abnormen Zuſtand entſtellt ſind; von den erſteren reden wir in
der folg. Anmerkung und dieß wird zu näherer Beleuchtung dieſes ganzen
Unterſchieds im Standpunkte des naturwiſſenſchaftlichen und äſthetiſchen
Gebietes führen.
3. Die Einſchränkungen, welche hier mit Verweiſung auf §. 18
wieder genannt werden, treten namentlich in der Thierwelt hervor und
werden beſtimmter angegeben werden, wenn von dieſer die Rede iſt. Für
die Naturwiſſenſchaft iſt ein von Hauſe aus verworren gebildetes Thier
ebenſowenig häßlich, als ein durch Lebensſtörungen entſtelltes; ſie begreift
die Bildung einer Fledermaus, eines Krokodils als etwas, was auf dieſer
Stufe nicht anders ſein kann. Allerdings muß zwar auch ſie die Bildung
dieſer und anderer Uebergangsſtufen als ſolche erkennen, welche zu einer
auffallend widerſprechenden Einheit Organe in ſich vereinigen, die in
reinerer, ebnerer, flüſſigerer Verbindung anderen Ordnungen angehören;
nur nennt ſie dieſe widerſtrebenden Verbindungen nicht häßlich. Das Ver-
hältniß wäre alſo hier daſſelbe, wie bei abnormen Entſtellungen: wie
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