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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Subjectivste. Mich. Angelo's titanische Formen bestachen zu seinem Nach-
theil selbst Raphael, der doch selbst Schulbildendes Genie war, und die
eine Richtung der allgemeinen Ausartung der Malerei, das Gewaltsame,
rührt von jenem. Aber neben dem Unnachahmlichen bleibt auch Nach-
ahmliches; Bahn ist gebrochen, Formen sind verstanden, Grundgesetze und
Grundverhältnisse sind entdeckt; das zeigt in der Geschichte der Malerei
vorzüglich Masaccio und Leonardo da Vinci. Unsere Ordnung kehrt sich
nun um, das Genie nimmt das Talent an die Leine und zieht es mit
sich. Das Genie sagt: die Regel bin ich, es ist lebendige, Person gewor-
dene Regel und wird daher Gesetzgeber. Dieß Alles findet jedoch aller-
dings seine Bestimmtheit erst in der eigentlichen Ausübung, denn das
Genie wirkt allerdings auch umwälzend auf die Technik.

§. 413.

Der volle Blich in die Tiefe ist ein ebenso voller in die Weite, zunächst
über die Stoffe, in welchen sich die den Mittelpunkt in den Kräften des Genies
bildende bestimmte Art der Phantasie ausbreitet. Das Genie erzeugt sich
aus wenigen Mitteln der Anschauung ein Weltbild, es erweitert sich zur Na-
tur und Menschheit, als hätte es ihre verschiedenen Formen selbst durchlebt.
Seine gereiften Phantasie-Gebilde fassen einen Ausschnitt des Weltganzen und
in ihm dieses selbst in einen Ring, woraus kein Glied genommen werden kann.

Die Intuition, welche Göthe in sich entdeckte und wovon früher schon
die Rede war. Das Genie kennt die Welt ohne Weltkenntniß, nimmt wie ein
Proteus alle Formen an, scheint aufzuhören, ein Individuum zu sein, und sich
in die Gattung jedes Lebendigen und der Menschheit zu verwandeln. So kennt
Shakespeare alle Stände, Lebensalter, die Geschlechter, Charaktere, Sitten,
Verhältnisse, Geist der Zeiten und Völker, und selbst die Natur scheint ihm
ihre Geheimnisse zuzuflüstern. So schrieb Göthe z. B. das herrliche Ge-
dicht: der Wanderer, ehe er Italien gesehen. Daß diese Intuition, deren
divinatorischer Blick sich nachher durch die Erfahrung bewährt, ohne alle
Erfahrung oder Anschauung nicht entstehen könnte, ist schon früher bemerkt;
auch das Genie, wenn es in Einsamkeit verschlossen lebte, könnte sich die
wahre Gestalt der Dinge nicht imaginiren; aber es genügt ihm der kleine
Finger, um die ganze Hand zu nehmen, wie Cüvier aus einem Gelenke
oder Zahn das ganze Thier erkannte. Natürlich ist dieß Weltbild kein
Ersatz für die gemeine Erfahrung als Schule des praktischen Lebens, denn
es schaut ja die Dinge in's Schöne, ist eine Weltkenntniß nur im innern
Schein und leicht erkennt der Dichter im discursiven Umgang mit den Din-
gen das ästhetisch wohl Erkannte nicht wieder. Er stellt mit Feuerblick,

Subjectivſte. Mich. Angelo’s titaniſche Formen beſtachen zu ſeinem Nach-
theil ſelbſt Raphael, der doch ſelbſt Schulbildendes Genie war, und die
eine Richtung der allgemeinen Ausartung der Malerei, das Gewaltſame,
rührt von jenem. Aber neben dem Unnachahmlichen bleibt auch Nach-
ahmliches; Bahn iſt gebrochen, Formen ſind verſtanden, Grundgeſetze und
Grundverhältniſſe ſind entdeckt; das zeigt in der Geſchichte der Malerei
vorzüglich Maſaccio und Leonardo da Vinci. Unſere Ordnung kehrt ſich
nun um, das Genie nimmt das Talent an die Leine und zieht es mit
ſich. Das Genie ſagt: die Regel bin ich, es iſt lebendige, Perſon gewor-
dene Regel und wird daher Geſetzgeber. Dieß Alles findet jedoch aller-
dings ſeine Beſtimmtheit erſt in der eigentlichen Ausübung, denn das
Genie wirkt allerdings auch umwälzend auf die Technik.

§. 413.

Der volle Blich in die Tiefe iſt ein ebenſo voller in die Weite, zunächſt
über die Stoffe, in welchen ſich die den Mittelpunkt in den Kräften des Genies
bildende beſtimmte Art der Phantaſie ausbreitet. Das Genie erzeugt ſich
aus wenigen Mitteln der Anſchauung ein Weltbild, es erweitert ſich zur Na-
tur und Menſchheit, als hätte es ihre verſchiedenen Formen ſelbſt durchlebt.
Seine gereiften Phantaſie-Gebilde faſſen einen Ausſchnitt des Weltganzen und
in ihm dieſes ſelbſt in einen Ring, woraus kein Glied genommen werden kann.

Die Intuition, welche Göthe in ſich entdeckte und wovon früher ſchon
die Rede war. Das Genie kennt die Welt ohne Weltkenntniß, nimmt wie ein
Proteus alle Formen an, ſcheint aufzuhören, ein Individuum zu ſein, und ſich
in die Gattung jedes Lebendigen und der Menſchheit zu verwandeln. So kennt
Shakespeare alle Stände, Lebensalter, die Geſchlechter, Charaktere, Sitten,
Verhältniſſe, Geiſt der Zeiten und Völker, und ſelbſt die Natur ſcheint ihm
ihre Geheimniſſe zuzuflüſtern. So ſchrieb Göthe z. B. das herrliche Ge-
dicht: der Wanderer, ehe er Italien geſehen. Daß dieſe Intuition, deren
divinatoriſcher Blick ſich nachher durch die Erfahrung bewährt, ohne alle
Erfahrung oder Anſchauung nicht entſtehen könnte, iſt ſchon früher bemerkt;
auch das Genie, wenn es in Einſamkeit verſchloſſen lebte, könnte ſich die
wahre Geſtalt der Dinge nicht imaginiren; aber es genügt ihm der kleine
Finger, um die ganze Hand zu nehmen, wie Cüvier aus einem Gelenke
oder Zahn das ganze Thier erkannte. Natürlich iſt dieß Weltbild kein
Erſatz für die gemeine Erfahrung als Schule des praktiſchen Lebens, denn
es ſchaut ja die Dinge in’s Schöne, iſt eine Weltkenntniß nur im innern
Schein und leicht erkennt der Dichter im diſcurſiven Umgang mit den Din-
gen das äſthetiſch wohl Erkannte nicht wieder. Er ſtellt mit Feuerblick,

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[396/0110] Subjectivſte. Mich. Angelo’s titaniſche Formen beſtachen zu ſeinem Nach- theil ſelbſt Raphael, der doch ſelbſt Schulbildendes Genie war, und die eine Richtung der allgemeinen Ausartung der Malerei, das Gewaltſame, rührt von jenem. Aber neben dem Unnachahmlichen bleibt auch Nach- ahmliches; Bahn iſt gebrochen, Formen ſind verſtanden, Grundgeſetze und Grundverhältniſſe ſind entdeckt; das zeigt in der Geſchichte der Malerei vorzüglich Maſaccio und Leonardo da Vinci. Unſere Ordnung kehrt ſich nun um, das Genie nimmt das Talent an die Leine und zieht es mit ſich. Das Genie ſagt: die Regel bin ich, es iſt lebendige, Perſon gewor- dene Regel und wird daher Geſetzgeber. Dieß Alles findet jedoch aller- dings ſeine Beſtimmtheit erſt in der eigentlichen Ausübung, denn das Genie wirkt allerdings auch umwälzend auf die Technik. §. 413. Der volle Blich in die Tiefe iſt ein ebenſo voller in die Weite, zunächſt über die Stoffe, in welchen ſich die den Mittelpunkt in den Kräften des Genies bildende beſtimmte Art der Phantaſie ausbreitet. Das Genie erzeugt ſich aus wenigen Mitteln der Anſchauung ein Weltbild, es erweitert ſich zur Na- tur und Menſchheit, als hätte es ihre verſchiedenen Formen ſelbſt durchlebt. Seine gereiften Phantaſie-Gebilde faſſen einen Ausſchnitt des Weltganzen und in ihm dieſes ſelbſt in einen Ring, woraus kein Glied genommen werden kann. Die Intuition, welche Göthe in ſich entdeckte und wovon früher ſchon die Rede war. Das Genie kennt die Welt ohne Weltkenntniß, nimmt wie ein Proteus alle Formen an, ſcheint aufzuhören, ein Individuum zu ſein, und ſich in die Gattung jedes Lebendigen und der Menſchheit zu verwandeln. So kennt Shakespeare alle Stände, Lebensalter, die Geſchlechter, Charaktere, Sitten, Verhältniſſe, Geiſt der Zeiten und Völker, und ſelbſt die Natur ſcheint ihm ihre Geheimniſſe zuzuflüſtern. So ſchrieb Göthe z. B. das herrliche Ge- dicht: der Wanderer, ehe er Italien geſehen. Daß dieſe Intuition, deren divinatoriſcher Blick ſich nachher durch die Erfahrung bewährt, ohne alle Erfahrung oder Anſchauung nicht entſtehen könnte, iſt ſchon früher bemerkt; auch das Genie, wenn es in Einſamkeit verſchloſſen lebte, könnte ſich die wahre Geſtalt der Dinge nicht imaginiren; aber es genügt ihm der kleine Finger, um die ganze Hand zu nehmen, wie Cüvier aus einem Gelenke oder Zahn das ganze Thier erkannte. Natürlich iſt dieß Weltbild kein Erſatz für die gemeine Erfahrung als Schule des praktiſchen Lebens, denn es ſchaut ja die Dinge in’s Schöne, iſt eine Weltkenntniß nur im innern Schein und leicht erkennt der Dichter im diſcurſiven Umgang mit den Din- gen das äſthetiſch wohl Erkannte nicht wieder. Er ſtellt mit Feuerblick,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/110>, abgerufen am 21.11.2024.