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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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der Herzen und Nieren prüft, den Bösewicht dar, und wenn er ihm in
der Wirklichkeit begegnet, wird er leichter, als ein Anderer, von ihm be-
trogen werden. Das kleine Stück Erfahrung, das dem Genie gibt, was
dem Andern die weiteste Erfahrung, weil sie doch kein Ganzes bringt, nicht
gibt, ist auch nicht zu verwechseln mit dem besondern Naturschönen, das wir
je im Falle des Schaffens als ein Sollicitirendes voraussetzen (§. 393).
Göthe z. B. hatte aus wenigen Mitteln sich ein Bild italienischer Na-
tur gemacht, ehe er sie gesehen; ein Zufall, eine Beschreibung, Erzählung.
Zeichnung gibt ihm den Stoff zu dem Gedichte: der Wanderer, und
jenes schon vorbereitete Bild lebt auf, gestaltet sich zu einem Ganzen,
Das bloße Talent dagegen liest bei gegebenen Anregungen zum Schaffen
aus einer großen Menge wirklicher Beobachtungen Züge zusammen, die
sich mit dem dargebotenen Hauptbilde nicht zu einem Ganzen durchdringen.
Das Werk des Genies dagegen hat diese Nothwendigkeit und ist untheil-
bar. Nur diese Glieder und nur so können die Glieder verbunden sein.
Dieß ist besonders in der Schauspielkunst überzeugend nachzuweisen an
dem Unterschiede des Mosaiks, das ein reflectirendes Talent, und des
ganzen und vollen Wurfs, den der geniale Schauspieler gibt.

g
Die Verbindung der Arten und des Maaßes der Phantasie.
§. 414.

Das Genie ist, weil es in Einem Punkte die höchste Kraft sammelt,
mehr, als das Talent und das fragmentarische Genie, auf eine der in §. 404
aufgestellten Arten der Phantasie, ja nach Beschaffenheit auf die Unterart einer
Art beschränkt. In verschiedenen Graden des Uebertritts wendet es sich auch
zu anderen Arten oder schärfer getrennten Unterarten, wirkt aber in diesen nur
als Talent. Dagegen bestimmt es sich selbst wieder zu einem Unterschied von
Stufen, worin je die tiefere Gewalt zugleich eine größere Ausdehnung auf die
in §. 402 und 403 aufgestellten Arten ist, so daß nun die Schlußsätze dieser
§§. ihre, durch die Schranke, welche im Anfangssatz des gegenwärtigen §. auf-
gestellt ist, näher bestimmte, concretere Anwendung finden.

1. Das Talent absorbirt sich nicht, kann daher sehr vielseitig sein,
ein Tausendkünstler in bildender Kunst, Musik und Poesie. Das frag-
mentarische Genie wird zwar seine Kernschüsse nur in Einer dieser Formen
der Phantasie thun, wenn es aber übrigens Talent ist, kann es sich wie

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der Herzen und Nieren prüft, den Böſewicht dar, und wenn er ihm in
der Wirklichkeit begegnet, wird er leichter, als ein Anderer, von ihm be-
trogen werden. Das kleine Stück Erfahrung, das dem Genie gibt, was
dem Andern die weiteſte Erfahrung, weil ſie doch kein Ganzes bringt, nicht
gibt, iſt auch nicht zu verwechſeln mit dem beſondern Naturſchönen, das wir
je im Falle des Schaffens als ein Sollicitirendes vorausſetzen (§. 393).
Göthe z. B. hatte aus wenigen Mitteln ſich ein Bild italieniſcher Na-
tur gemacht, ehe er ſie geſehen; ein Zufall, eine Beſchreibung, Erzählung.
Zeichnung gibt ihm den Stoff zu dem Gedichte: der Wanderer, und
jenes ſchon vorbereitete Bild lebt auf, geſtaltet ſich zu einem Ganzen,
Das bloße Talent dagegen liest bei gegebenen Anregungen zum Schaffen
aus einer großen Menge wirklicher Beobachtungen Züge zuſammen, die
ſich mit dem dargebotenen Hauptbilde nicht zu einem Ganzen durchdringen.
Das Werk des Genies dagegen hat dieſe Nothwendigkeit und iſt untheil-
bar. Nur dieſe Glieder und nur ſo können die Glieder verbunden ſein.
Dieß iſt beſonders in der Schauſpielkunſt überzeugend nachzuweiſen an
dem Unterſchiede des Moſaiks, das ein reflectirendes Talent, und des
ganzen und vollen Wurfs, den der geniale Schauſpieler gibt.

γ
Die Verbindung der Arten und des Maaßes der Phantaſie.
§. 414.

Das Genie iſt, weil es in Einem Punkte die höchſte Kraft ſammelt,
mehr, als das Talent und das fragmentariſche Genie, auf eine der in §. 404
aufgeſtellten Arten der Phantaſie, ja nach Beſchaffenheit auf die Unterart einer
Art beſchränkt. In verſchiedenen Graden des Uebertritts wendet es ſich auch
zu anderen Arten oder ſchärfer getrennten Unterarten, wirkt aber in dieſen nur
als Talent. Dagegen beſtimmt es ſich ſelbſt wieder zu einem Unterſchied von
Stufen, worin je die tiefere Gewalt zugleich eine größere Ausdehnung auf die
in §. 402 und 403 aufgeſtellten Arten iſt, ſo daß nun die Schlußſätze dieſer
§§. ihre, durch die Schranke, welche im Anfangsſatz des gegenwärtigen §. auf-
geſtellt iſt, näher beſtimmte, concretere Anwendung finden.

1. Das Talent abſorbirt ſich nicht, kann daher ſehr vielſeitig ſein,
ein Tauſendkünſtler in bildender Kunſt, Muſik und Poeſie. Das frag-
mentariſche Genie wird zwar ſeine Kernſchüſſe nur in Einer dieſer Formen
der Phantaſie thun, wenn es aber übrigens Talent iſt, kann es ſich wie

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[397/0111] der Herzen und Nieren prüft, den Böſewicht dar, und wenn er ihm in der Wirklichkeit begegnet, wird er leichter, als ein Anderer, von ihm be- trogen werden. Das kleine Stück Erfahrung, das dem Genie gibt, was dem Andern die weiteſte Erfahrung, weil ſie doch kein Ganzes bringt, nicht gibt, iſt auch nicht zu verwechſeln mit dem beſondern Naturſchönen, das wir je im Falle des Schaffens als ein Sollicitirendes vorausſetzen (§. 393). Göthe z. B. hatte aus wenigen Mitteln ſich ein Bild italieniſcher Na- tur gemacht, ehe er ſie geſehen; ein Zufall, eine Beſchreibung, Erzählung. Zeichnung gibt ihm den Stoff zu dem Gedichte: der Wanderer, und jenes ſchon vorbereitete Bild lebt auf, geſtaltet ſich zu einem Ganzen, Das bloße Talent dagegen liest bei gegebenen Anregungen zum Schaffen aus einer großen Menge wirklicher Beobachtungen Züge zuſammen, die ſich mit dem dargebotenen Hauptbilde nicht zu einem Ganzen durchdringen. Das Werk des Genies dagegen hat dieſe Nothwendigkeit und iſt untheil- bar. Nur dieſe Glieder und nur ſo können die Glieder verbunden ſein. Dieß iſt beſonders in der Schauſpielkunſt überzeugend nachzuweiſen an dem Unterſchiede des Moſaiks, das ein reflectirendes Talent, und des ganzen und vollen Wurfs, den der geniale Schauſpieler gibt. γ Die Verbindung der Arten und des Maaßes der Phantaſie. §. 414. Das Genie iſt, weil es in Einem Punkte die höchſte Kraft ſammelt, mehr, als das Talent und das fragmentariſche Genie, auf eine der in §. 404 aufgeſtellten Arten der Phantaſie, ja nach Beſchaffenheit auf die Unterart einer Art beſchränkt. In verſchiedenen Graden des Uebertritts wendet es ſich auch zu anderen Arten oder ſchärfer getrennten Unterarten, wirkt aber in dieſen nur als Talent. Dagegen beſtimmt es ſich ſelbſt wieder zu einem Unterſchied von Stufen, worin je die tiefere Gewalt zugleich eine größere Ausdehnung auf die in §. 402 und 403 aufgeſtellten Arten iſt, ſo daß nun die Schlußſätze dieſer §§. ihre, durch die Schranke, welche im Anfangsſatz des gegenwärtigen §. auf- geſtellt iſt, näher beſtimmte, concretere Anwendung finden. 1. Das Talent abſorbirt ſich nicht, kann daher ſehr vielſeitig ſein, ein Tauſendkünſtler in bildender Kunſt, Muſik und Poeſie. Das frag- mentariſche Genie wird zwar ſeine Kernſchüſſe nur in Einer dieſer Formen der Phantaſie thun, wenn es aber übrigens Talent iſt, kann es ſich wie 26*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/111>, abgerufen am 21.11.2024.