Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
immer noch abstract. Jetzt erst können wir sie dahin stellen, wo sie con- 2. Das Bild, durch welches das phantasievolle Individuum der Vischer's Aesthetik. 2. Bd. 27
immer noch abſtract. Jetzt erſt können wir ſie dahin ſtellen, wo ſie con- 2. Das Bild, durch welches das phantaſievolle Individuum der Viſcher’s Aeſthetik. 2. Bd. 27
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immer noch abſtract. Jetzt erſt können wir ſie dahin ſtellen, wo ſie con-
cret wird, in die Mitte der geſchichtlichen Bedingungen. Das Genie
erſcheint nun als geiſtiger Flügelmann eines Volks, eines Zeitalters, deſſen
Kräfte in ihm zuſammenfließen, zu einem Centrum, Brennpunkt ſich ſam-
meln, als Seher der Zeit. So „hält es der Natur den Spiegel vor,
zeigt der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und
dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck ſeiner Geſtalt.“ Es
iſt aber nicht nur eine weitere Beſtimmung der allgemeinen Art, unter
welche nun das phantaſievolle Individuum tritt, wie: antik oder claſſiſch, ro-
mantiſch, modern. Dieſe Epochen haben, wie ſich zeigen wird, ſelbſt wieder
ihre verſchiedenen Stadien. Und nicht nur dieß; die Phantaſie des Einzel-
nen iſt immer ſo beſtimmt, daß ſie mehrere der ſo entſtehenden neuen Arten
in ſich vereinigt, während freilich eine derſelben den Mittelpunkt bildet. So
hat das Klaſſiſche ſeine Romantiker, das Romantiſche ſeine Klaſſiker, das
Moderne wird im Einen mehr klaſſiſch, im Andern mehr romantiſch, ein
Dritter vereinigt wieder Beides. Die Ilias z. B. iſt mehr klaſſiſch, die
Odyſſee romantiſch im Klaſſiſchen u. ſ. w. Nun nehme man hiezu wieder
alle in dem Abſchnitt von den Arten der Phantaſie gefundenen Einthei-
lungen, Reihen auf und erwäge, wie ſie ſich mit den jetzt gefundenen
neuen Arten in unendlichen Miſchungen verbinden müſſen, ſo hat man erſt
die ganze Summe der concreten Bedingungen beiſammen. Mußten wir
ja ſchon dort vielfach auf die Geſchichte der Phantaſie voraus hinweiſen;
anders verhält ſich jede geſchichtliche Form des Ideals zu dem einfach
Schönen, Erhabenen, Komiſchen, anders zu den auf verſchiedene Sphären
des Stoffs gerichteten, anders zu den auf die verſchiedenen Momente der
Phantaſie ſelbſt geſtellten Arten, und wir werden bald ſehen, wie ſich die
geſchichtlichen Unterſchiede namentlich mit den letztern berühren.
2. Das Bild, durch welches das phantaſievolle Individuum der
Zeit und Nation ihr eigenes Angeſicht zeigt, gibt dieß Angeſicht in Rein-
heit umgeſchaffen. Die Menſchheit erfährt dadurch, wie ſie iſt, alſo etwas
Altes, aber dieß Alte iſt zugleich ſchlechtweg neu und auch dieß Erfahren
iſt neu. Wie daher die Strahlen zum Brennpunkt geſammelt mit anderer
Intenſität wirken, als in der Zerſtreuung, ſo gibt jenes Bild dem Volk
und ſeiner Geſchichte einen unberechenbaren Schwung. Die Nation richtet
ihre Wirklichkeit an ihrem eigenen idealen Bilde auf und erzieht ſich da-
ran. Homer hat unendlich auf die Griechen, Schiller auf die Deutſchen
gewirkt, ja eine ſolche Wirkung verbreitet ſich auf die Menſchheit in alle
Zeiten. Dieſe Wirkung iſt nicht rein äſthetiſch, ſie iſt ſittlich, intellectuell,
ſickert in alle Zweige des geiſtigen Lebens; was aber vor dem ſtrengen
Grundgeſetze des Schönen eine Auflöſung ſeiner Elemente iſt, kann vom
Standpunkt des Guten immer noch unendliche Wohlthat ſein (vergl. §. 76,
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Bd. 27
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