Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
reine Contemplation identisch mit Brahma ist, finden. Um dieses Zwie-
reine Contemplation identiſch mit Brahma iſt, finden. Um dieſes Zwie- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0148" n="434"/> reine Contemplation identiſch mit Brahma iſt, finden. Um dieſes Zwie-<lb/> ſpalts willen nennt er die indiſche Religion die des radicalen Böſen. Für<lb/> unſern äſthetiſchen Zuſammenhang iſt jedenfalls das bildende Verfahren<lb/> in dieſer Religion zu wichtig, als daß wir nur vom Endzwecke des Be-<lb/> wußtſeins, das dieſem Verfahren zu Grunde liegt, ausgehen dürften;<lb/> in der That aber laſſen ſich beide Beſtimmungen, wie im §. geſchehen,<lb/> zuſammenfaſſen. Der Grund nämlich, warum die bunte Götterwelt, die<lb/> ſich aus dem dunkeln Urweſen durch Anſammlung von Local- und Sec-<lb/> tenculten von der Trimurti durch die Götter zweiten Rangs bis zu der<lb/> Maſſe untergeordneter guter und böſer Geiſter herab fortſpann, durch-<lb/> gängig den traumartig gaukelnden Charakter hat, worin Alles ſchwimmt,<lb/> ſchwillt, ineinander übergeht, Jedes jeden Augenblick in das Göttliche<lb/> aufgähren und dieſes in jeden noch ſo ſinnlichen Zuſammenhang wie mit<lb/> gleichen Füßen hereinſpringen kann: der Grund davon iſt eben im ethi-<lb/> ſchen Bewußtſein der ſtete Ausgang von und Rückgang zu der dunkeln<lb/> Einheit in Brahma; die Feſthaltung des geſtaltloſen Grundes iſt es, die<lb/> alles Geſtaltete in ſtetem Fluß erhält; ſie iſt die dunkle Grotte, worin<lb/> der Geiſt in Traum ſinkt und ſeine trunkenen Geſtalten in geiſterhaftem<lb/> Wechſel, ſteter Metamorphoſe an ſich vorüberſchweben läßt. Der bewegungs-<lb/> los ſinnende Brahma, der brütende Buddha und der wilde, tanzende Siwa<lb/> ſind recht die Repräſentanten beider Pole dieſes zwieſpältigen Geiſtes,<lb/> der jedoch ſeine Gegenſätze nicht trennt, ſondern fließend erhält, daher die<lb/> Bezeichnung: radicales Böſes jedenfalls zu viel ſagt. Wir halten uns nun<lb/> nicht weiter bei dem auf, was dieſe Phantaſie mit aller orientaliſchen ge-<lb/> mein hat, nicht bei den unorganiſchen, botaniſchen, thieriſchen Symbolen,<lb/> ihrer krauſen Zuſammenſetzung mit der Menſchengeſtalt, ihrer coloſſalen<lb/> Größe. Was aber mit jenem ſchwebenden Charakter ganz ſtimmt, iſt die<lb/> auffallende Weichheit des indiſchen Formgefühls. Wir reden hier nicht<lb/> von der Süßigkeit und Anmuth rein menſchlicher Züge, nicht von dem<lb/> ſeelenvollen Naturſinn, der ſich nothwendig in der eigenen Darſtellung<lb/> ebenſo zeigen wird, wie im Leben dieſes Volkes ſelbſt (vergl. §. 346, <hi rendition="#sub">1</hi>.),<lb/> ſondern näher von der ſpeziellen Auffaſſung der Geſtalt. Der indiſche<lb/> Formſinn erreicht im Einzelnen einen Schwung, der an der Schwelle des<lb/> Schönen ſteht, beſonders in den breithüftigen Weibergeſtalten; für das<lb/> Weibliche iſt überhaupt das feinſte Gefühl vorhanden, die heiße Sehn-<lb/> ſucht, der üppige und ſüße Wolluſt-Drang der Liebe iſt das eigentliche<lb/> Element dieſer keimvollen Religion, die uns von der Brautnacht der Seele<lb/> mit Gott in das irdiſche Brautbett und zurück in jene zieht. Doch auch<lb/> männliche Formen zeigen oft Fluß und Schwung, dem griechiſchen nahe,<lb/> auch in Bewegung und Thun, wie denn in Nala und Damajanti<lb/> die Wagenfahrt des Erſteren offenbar etwas vom Geiſte Homers hat.<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [434/0148]
reine Contemplation identiſch mit Brahma iſt, finden. Um dieſes Zwie-
ſpalts willen nennt er die indiſche Religion die des radicalen Böſen. Für
unſern äſthetiſchen Zuſammenhang iſt jedenfalls das bildende Verfahren
in dieſer Religion zu wichtig, als daß wir nur vom Endzwecke des Be-
wußtſeins, das dieſem Verfahren zu Grunde liegt, ausgehen dürften;
in der That aber laſſen ſich beide Beſtimmungen, wie im §. geſchehen,
zuſammenfaſſen. Der Grund nämlich, warum die bunte Götterwelt, die
ſich aus dem dunkeln Urweſen durch Anſammlung von Local- und Sec-
tenculten von der Trimurti durch die Götter zweiten Rangs bis zu der
Maſſe untergeordneter guter und böſer Geiſter herab fortſpann, durch-
gängig den traumartig gaukelnden Charakter hat, worin Alles ſchwimmt,
ſchwillt, ineinander übergeht, Jedes jeden Augenblick in das Göttliche
aufgähren und dieſes in jeden noch ſo ſinnlichen Zuſammenhang wie mit
gleichen Füßen hereinſpringen kann: der Grund davon iſt eben im ethi-
ſchen Bewußtſein der ſtete Ausgang von und Rückgang zu der dunkeln
Einheit in Brahma; die Feſthaltung des geſtaltloſen Grundes iſt es, die
alles Geſtaltete in ſtetem Fluß erhält; ſie iſt die dunkle Grotte, worin
der Geiſt in Traum ſinkt und ſeine trunkenen Geſtalten in geiſterhaftem
Wechſel, ſteter Metamorphoſe an ſich vorüberſchweben läßt. Der bewegungs-
los ſinnende Brahma, der brütende Buddha und der wilde, tanzende Siwa
ſind recht die Repräſentanten beider Pole dieſes zwieſpältigen Geiſtes,
der jedoch ſeine Gegenſätze nicht trennt, ſondern fließend erhält, daher die
Bezeichnung: radicales Böſes jedenfalls zu viel ſagt. Wir halten uns nun
nicht weiter bei dem auf, was dieſe Phantaſie mit aller orientaliſchen ge-
mein hat, nicht bei den unorganiſchen, botaniſchen, thieriſchen Symbolen,
ihrer krauſen Zuſammenſetzung mit der Menſchengeſtalt, ihrer coloſſalen
Größe. Was aber mit jenem ſchwebenden Charakter ganz ſtimmt, iſt die
auffallende Weichheit des indiſchen Formgefühls. Wir reden hier nicht
von der Süßigkeit und Anmuth rein menſchlicher Züge, nicht von dem
ſeelenvollen Naturſinn, der ſich nothwendig in der eigenen Darſtellung
ebenſo zeigen wird, wie im Leben dieſes Volkes ſelbſt (vergl. §. 346, 1.),
ſondern näher von der ſpeziellen Auffaſſung der Geſtalt. Der indiſche
Formſinn erreicht im Einzelnen einen Schwung, der an der Schwelle des
Schönen ſteht, beſonders in den breithüftigen Weibergeſtalten; für das
Weibliche iſt überhaupt das feinſte Gefühl vorhanden, die heiße Sehn-
ſucht, der üppige und ſüße Wolluſt-Drang der Liebe iſt das eigentliche
Element dieſer keimvollen Religion, die uns von der Brautnacht der Seele
mit Gott in das irdiſche Brautbett und zurück in jene zieht. Doch auch
männliche Formen zeigen oft Fluß und Schwung, dem griechiſchen nahe,
auch in Bewegung und Thun, wie denn in Nala und Damajanti
die Wagenfahrt des Erſteren offenbar etwas vom Geiſte Homers hat.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |