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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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die vermag, welche auf dem malerischen Sehen ruht. Unter den Vielen, welche
die letztere umfaßt, können sich auch solche befinden, die in Formen unschön sind,
aber diese Unschönheit hebt sich in den fließenden Wirkungen der allgemeinen
Medien (des Lichts und der Farbe) und in der Wechsel-Ergänzung schö-
nerer, unter denselben Medien befaßter Individuen wieder auf.

3. Im Geiste der bildenden Phantasie muß sich nun in diesem Ideal
auch die eigentlich messende, die empfindende, die dichtende Phantasie be-
stimmen. Die erste wird dem Ungeheuren entnommen in ruhige Maaße
einlenken, welche mannigfach schon an organisch menschliche Verhältniße
anklingen werden (Säule); die zweite wird das bewegte Innere strenger
messen und, sofern sie sich in die dichtende fortsetzt, mehr bewegte Gegen-
stände, als blos Bewegungen des hervorbringenden Subjects geben; die
dritte wird in dieser und ihren andern Formen gegenständlich verfahren
und in scharfen, tastbaren Umrissen zeichnen. Die Objectivität dieses
ganzen Verhaltens hat einen doppelten Sinn: das geschaffene Phantasie-
bild zeigt Gleichgewicht des Ausdrucks und des Leibs, das schaffende
Subject aber kann sich ebendarum nur in Erscheinungen legen, deren
volle Gegenständlichkeit sein ganzes inneres Leben in sich aufnimmt: wie
im Object, so ist auch im Subject kein zurückgebliebener Rest. Das Letztere
nennt man realistisch, das Erstere objectiv. In der dichtenden Phantasie
erfährt nun das Gesetz, daß die einzelne Gestalt schön sein muß, aller-
dings eine Einschränkung, hier bewegen sich mit stärkerer Betonung des
geistigen Ausdrucks viele Individuen vor der Phantasie; doch wird auch
dadurch der Spielraum für unschöne Formen nie so erweitert, wie wir
dieß in den folgenden Idealen, dem romantischen und modernen finden
werden. Die Unform selbst erhält von dem fortwirkenden Geiste des bilden-
den Verfahrens einen gewissen Schwung des Großartigen, für den wir
in der Kunstlehre den rechten Namen finden werden.

§. 440.

1

Der herrschende Standpunkt dieser Phantasie ist das einfach Schöne.
Danach bestimmt sie auch das Erhabene, in welchem sie sich jedoch nicht auf
die objective Form beschränkt, sondern wesentlich auch auf die subjective, und, da
die dunkle Macht des Schicksals (§. 435, 1.), zwar nicht ohne einen Rest
unaufgelöster Naturnothwendigkeit, in die Dialektik einer ethischen Bewegung
2eingeht, auf die tragische Form ausdehnt. Danach bestimmt sie auch das Ko-
mische
, das ihr jedoch sparsamer und auch in seiner reichsten Ausbildung nur
3auf der steten Grundlage der Posse zugänglich ist. Uebrigens da das Ideal
die Naturgesetze durchbricht, so entsteht als neue Form des Komischen das
phantastisch Komische oder Grotteske.


die vermag, welche auf dem maleriſchen Sehen ruht. Unter den Vielen, welche
die letztere umfaßt, können ſich auch ſolche befinden, die in Formen unſchön ſind,
aber dieſe Unſchönheit hebt ſich in den fließenden Wirkungen der allgemeinen
Medien (des Lichts und der Farbe) und in der Wechſel-Ergänzung ſchö-
nerer, unter denſelben Medien befaßter Individuen wieder auf.

3. Im Geiſte der bildenden Phantaſie muß ſich nun in dieſem Ideal
auch die eigentlich meſſende, die empfindende, die dichtende Phantaſie be-
ſtimmen. Die erſte wird dem Ungeheuren entnommen in ruhige Maaße
einlenken, welche mannigfach ſchon an organiſch menſchliche Verhältniße
anklingen werden (Säule); die zweite wird das bewegte Innere ſtrenger
meſſen und, ſofern ſie ſich in die dichtende fortſetzt, mehr bewegte Gegen-
ſtände, als blos Bewegungen des hervorbringenden Subjects geben; die
dritte wird in dieſer und ihren andern Formen gegenſtändlich verfahren
und in ſcharfen, taſtbaren Umriſſen zeichnen. Die Objectivität dieſes
ganzen Verhaltens hat einen doppelten Sinn: das geſchaffene Phantaſie-
bild zeigt Gleichgewicht des Ausdrucks und des Leibs, das ſchaffende
Subject aber kann ſich ebendarum nur in Erſcheinungen legen, deren
volle Gegenſtändlichkeit ſein ganzes inneres Leben in ſich aufnimmt: wie
im Object, ſo iſt auch im Subject kein zurückgebliebener Reſt. Das Letztere
nennt man realiſtiſch, das Erſtere objectiv. In der dichtenden Phantaſie
erfährt nun das Geſetz, daß die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, aller-
dings eine Einſchränkung, hier bewegen ſich mit ſtärkerer Betonung des
geiſtigen Ausdrucks viele Individuen vor der Phantaſie; doch wird auch
dadurch der Spielraum für unſchöne Formen nie ſo erweitert, wie wir
dieß in den folgenden Idealen, dem romantiſchen und modernen finden
werden. Die Unform ſelbſt erhält von dem fortwirkenden Geiſte des bilden-
den Verfahrens einen gewiſſen Schwung des Großartigen, für den wir
in der Kunſtlehre den rechten Namen finden werden.

§. 440.

1

Der herrſchende Standpunkt dieſer Phantaſie iſt das einfach Schöne.
Danach beſtimmt ſie auch das Erhabene, in welchem ſie ſich jedoch nicht auf
die objective Form beſchränkt, ſondern weſentlich auch auf die ſubjective, und, da
die dunkle Macht des Schickſals (§. 435, 1.), zwar nicht ohne einen Reſt
unaufgelöster Naturnothwendigkeit, in die Dialektik einer ethiſchen Bewegung
2eingeht, auf die tragiſche Form ausdehnt. Danach beſtimmt ſie auch das Ko-
miſche
, das ihr jedoch ſparſamer und auch in ſeiner reichſten Ausbildung nur
3auf der ſteten Grundlage der Poſſe zugänglich iſt. Uebrigens da das Ideal
die Naturgeſetze durchbricht, ſo entſteht als neue Form des Komiſchen das
phantaſtiſch Komiſche oder Grotteske.


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[462/0176] die vermag, welche auf dem maleriſchen Sehen ruht. Unter den Vielen, welche die letztere umfaßt, können ſich auch ſolche befinden, die in Formen unſchön ſind, aber dieſe Unſchönheit hebt ſich in den fließenden Wirkungen der allgemeinen Medien (des Lichts und der Farbe) und in der Wechſel-Ergänzung ſchö- nerer, unter denſelben Medien befaßter Individuen wieder auf. 3. Im Geiſte der bildenden Phantaſie muß ſich nun in dieſem Ideal auch die eigentlich meſſende, die empfindende, die dichtende Phantaſie be- ſtimmen. Die erſte wird dem Ungeheuren entnommen in ruhige Maaße einlenken, welche mannigfach ſchon an organiſch menſchliche Verhältniße anklingen werden (Säule); die zweite wird das bewegte Innere ſtrenger meſſen und, ſofern ſie ſich in die dichtende fortſetzt, mehr bewegte Gegen- ſtände, als blos Bewegungen des hervorbringenden Subjects geben; die dritte wird in dieſer und ihren andern Formen gegenſtändlich verfahren und in ſcharfen, taſtbaren Umriſſen zeichnen. Die Objectivität dieſes ganzen Verhaltens hat einen doppelten Sinn: das geſchaffene Phantaſie- bild zeigt Gleichgewicht des Ausdrucks und des Leibs, das ſchaffende Subject aber kann ſich ebendarum nur in Erſcheinungen legen, deren volle Gegenſtändlichkeit ſein ganzes inneres Leben in ſich aufnimmt: wie im Object, ſo iſt auch im Subject kein zurückgebliebener Reſt. Das Letztere nennt man realiſtiſch, das Erſtere objectiv. In der dichtenden Phantaſie erfährt nun das Geſetz, daß die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, aller- dings eine Einſchränkung, hier bewegen ſich mit ſtärkerer Betonung des geiſtigen Ausdrucks viele Individuen vor der Phantaſie; doch wird auch dadurch der Spielraum für unſchöne Formen nie ſo erweitert, wie wir dieß in den folgenden Idealen, dem romantiſchen und modernen finden werden. Die Unform ſelbſt erhält von dem fortwirkenden Geiſte des bilden- den Verfahrens einen gewiſſen Schwung des Großartigen, für den wir in der Kunſtlehre den rechten Namen finden werden. §. 440. Der herrſchende Standpunkt dieſer Phantaſie iſt das einfach Schöne. Danach beſtimmt ſie auch das Erhabene, in welchem ſie ſich jedoch nicht auf die objective Form beſchränkt, ſondern weſentlich auch auf die ſubjective, und, da die dunkle Macht des Schickſals (§. 435, 1.), zwar nicht ohne einen Reſt unaufgelöster Naturnothwendigkeit, in die Dialektik einer ethiſchen Bewegung eingeht, auf die tragiſche Form ausdehnt. Danach beſtimmt ſie auch das Ko- miſche, das ihr jedoch ſparſamer und auch in ſeiner reichſten Ausbildung nur auf der ſteten Grundlage der Poſſe zugänglich iſt. Uebrigens da das Ideal die Naturgeſetze durchbricht, ſo entſteht als neue Form des Komiſchen das phantaſtiſch Komiſche oder Grotteske.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/176>, abgerufen am 21.11.2024.