Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
das Naturschöne (§. 510--513) nunmehr als Studium betreiben und zugleich 1. Der Unterschied der Kunst vom bloßen Spiele erscheint hier
das Naturſchöne (§. 510—513) nunmehr als Studium betreiben und zugleich 1. Der Unterſchied der Kunſt vom bloßen Spiele erſcheint hier <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0113" n="101"/> das Naturſchöne (§. 510—513) nunmehr als Studium betreiben und zugleich<lb/> die Werke des Lehrers und anderer genial Vorgeſchrittener zum Vorbild nehmen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Der Unterſchied der Kunſt vom bloßen <hi rendition="#g">Spiele</hi> erſcheint hier<lb/> erſt in ſeiner vollen Bedeutung: das Spiel iſt momentan und will mühe-<lb/> los ſein, die Kunſt fordert den ganzen Mann, ſie nimmt die ganze Kraft<lb/> eines Menſchenlebens in Anſpruch, und zwar zuerſt die ganze Kraft einer<lb/> Jugend für die Schule und ihre langen Lehrjahre. Da gilt es lernen<lb/> und auch nachdem man eine gewiſſe Stufe der Ausbildung erſtiegen<lb/> hat, ſich des Hervorbringens enthalten, ſo lange man nicht im Beſitze der<lb/> Sicherheit iſt. Der Dilettant dagegen übt die Kunſt wie ein Spiel; einen<lb/> allgemeinen Trieb zur Nachahmung, ein Intereſſe an gewiſſen Stoffen,<lb/> eine natürliche Leichtigkeit in gewiſſen Theilen der Darſtellung hält er für<lb/> Talent und Beruf; ſtatt ſich der Geduldprobe der ordentlichen Schule zu<lb/> unterwerfen, glaubt er es abgethan mit dem oberflächlichen Kunſt-Unter-<lb/> richt, wie er in die allgemeine Erziehung übergegangen, und flüchtiger<lb/> nachträglicher Uebung, welche die Reſultate langer, mühſam erworbener<lb/> Fertigkeit leicht oben abſchöpft, und indem er von da unmittelbar zur<lb/> Ausübung ſchreitet, verhält er ſich zur Kunſt wie der Pfuſcher zum<lb/> Handwerk; „weil ein Vers ihm gelingt in einer gebildeten Sprache, die<lb/> für ihn dichtet und denkt, glaubt er ſchon Dichter zu ſeyn“ (Schiller).<lb/> Dem Inhalte nach iſt ſein Werk ſubjectiv: er flieht das Object und gibt<lb/> ſtatt deſſen pathologiſch ſeine Empfindung über das Object. Er ſchiebt<lb/> ſein Ich in den Gegenſtand, er iſt eitel. In ſolchen Zweigen, wo das<lb/> Subject allein ſchon für ſich viel bedeutet, kann er ſich am eheſten dem<lb/> Künſtler nähern, ſo in der lyriſchen Poeſie, Muſik, Tanz; in den<lb/> Gattungen aber, die als ſolche ſchon objectiver ſind, Epos, Drama,<lb/> Malerei, plaſtiſchen Verſuchen, Bau-Entwürfen, erkennt man, daß es<lb/> ihm an der Hauptſache, an der Erfindung eines Ganzen fehlt, an der<lb/> Architektonik. Er iſt daher immer unſelbſtſtändig, Plagiarius. In der<lb/> Technik iſt er ungründlich, d. h. entweder geiſtreich mit Vernachläßigung<lb/> des Mechaniſchen, oder mechaniſch geſchickt und ſauber ohne Mark und<lb/> Feſtigkeit in den Grundlagen: er hat den Handgriff ohne ſeine Vorbe-<lb/> dingungen abgeſehen. So gibt es in der Malerei manche Dilettanten,<lb/> die ſauber malen, aber Keinen, der gut zeichnet. Der Dilettantismus hat<lb/> jedoch ſeinen Werth; er iſt ein edlerer Zeitvertreib (namentlich häusliche<lb/> Muſik und Liebhabertheater), er leitet den Kunſtſinn dahin, wohin der<lb/> Künſtler nicht kommt, begründet Kennerſchaft, verbreitet Cultur. — Dieſe<lb/> Sätze ſind zum Theil wörtlich aus <hi rendition="#g">Göthes</hi> trefflicher Skizze „über den<lb/> ſogenannten Dilettantismus oder die praktiſche Liebhaberei in den Künſten<lb/> (Werke B. 44 S. 264 ff.); <hi rendition="#g">Göthe</hi> und <hi rendition="#g">Schiller</hi> beſchäftigten ſich auf-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [101/0113]
das Naturſchöne (§. 510—513) nunmehr als Studium betreiben und zugleich
die Werke des Lehrers und anderer genial Vorgeſchrittener zum Vorbild nehmen.
1. Der Unterſchied der Kunſt vom bloßen Spiele erſcheint hier
erſt in ſeiner vollen Bedeutung: das Spiel iſt momentan und will mühe-
los ſein, die Kunſt fordert den ganzen Mann, ſie nimmt die ganze Kraft
eines Menſchenlebens in Anſpruch, und zwar zuerſt die ganze Kraft einer
Jugend für die Schule und ihre langen Lehrjahre. Da gilt es lernen
und auch nachdem man eine gewiſſe Stufe der Ausbildung erſtiegen
hat, ſich des Hervorbringens enthalten, ſo lange man nicht im Beſitze der
Sicherheit iſt. Der Dilettant dagegen übt die Kunſt wie ein Spiel; einen
allgemeinen Trieb zur Nachahmung, ein Intereſſe an gewiſſen Stoffen,
eine natürliche Leichtigkeit in gewiſſen Theilen der Darſtellung hält er für
Talent und Beruf; ſtatt ſich der Geduldprobe der ordentlichen Schule zu
unterwerfen, glaubt er es abgethan mit dem oberflächlichen Kunſt-Unter-
richt, wie er in die allgemeine Erziehung übergegangen, und flüchtiger
nachträglicher Uebung, welche die Reſultate langer, mühſam erworbener
Fertigkeit leicht oben abſchöpft, und indem er von da unmittelbar zur
Ausübung ſchreitet, verhält er ſich zur Kunſt wie der Pfuſcher zum
Handwerk; „weil ein Vers ihm gelingt in einer gebildeten Sprache, die
für ihn dichtet und denkt, glaubt er ſchon Dichter zu ſeyn“ (Schiller).
Dem Inhalte nach iſt ſein Werk ſubjectiv: er flieht das Object und gibt
ſtatt deſſen pathologiſch ſeine Empfindung über das Object. Er ſchiebt
ſein Ich in den Gegenſtand, er iſt eitel. In ſolchen Zweigen, wo das
Subject allein ſchon für ſich viel bedeutet, kann er ſich am eheſten dem
Künſtler nähern, ſo in der lyriſchen Poeſie, Muſik, Tanz; in den
Gattungen aber, die als ſolche ſchon objectiver ſind, Epos, Drama,
Malerei, plaſtiſchen Verſuchen, Bau-Entwürfen, erkennt man, daß es
ihm an der Hauptſache, an der Erfindung eines Ganzen fehlt, an der
Architektonik. Er iſt daher immer unſelbſtſtändig, Plagiarius. In der
Technik iſt er ungründlich, d. h. entweder geiſtreich mit Vernachläßigung
des Mechaniſchen, oder mechaniſch geſchickt und ſauber ohne Mark und
Feſtigkeit in den Grundlagen: er hat den Handgriff ohne ſeine Vorbe-
dingungen abgeſehen. So gibt es in der Malerei manche Dilettanten,
die ſauber malen, aber Keinen, der gut zeichnet. Der Dilettantismus hat
jedoch ſeinen Werth; er iſt ein edlerer Zeitvertreib (namentlich häusliche
Muſik und Liebhabertheater), er leitet den Kunſtſinn dahin, wohin der
Künſtler nicht kommt, begründet Kennerſchaft, verbreitet Cultur. — Dieſe
Sätze ſind zum Theil wörtlich aus Göthes trefflicher Skizze „über den
ſogenannten Dilettantismus oder die praktiſche Liebhaberei in den Künſten
(Werke B. 44 S. 264 ff.); Göthe und Schiller beſchäftigten ſich auf-
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Zitationshilfe: | Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/113>, abgerufen am 16.02.2025. |