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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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weiter zu tragen und nicht vor Regen zu schützen hat, nur als große
Hohlkehle mit einem Leisten darüber darstellt. Hiemit sind zugleich die
wenigen, einfachen Glieder genannt, zu denen sich das wuchernde indische
Formenspiel zusammengezogen hat. Das scharfe Abgrenzen drückt sich
auch darin aus, daß die senkrechten Kanten des ganzen Baus ebenfalls
mit Rundstäben eingefaßt sind. Reicher Sculptur- und Farbenschmuck
bedeckt alle Flächen, hat aber, da Giebel und Fries fehlen, nicht die
natürlich sich ergebenden Hauptstellen zu besonderer, reicher Concentrirung
gefunden.

2. Neben der klaren Messung, welche demnach die Einzelformen
nunmehr beherrscht und vereinfacht, drängt sich in der Anlage des Ganzen
auch hier noch die orientalische Ungemessenheit hervor. Der ägyptische
Tempelbau ist nicht eigentlich ein "Einschachtelungs System" (Kugler),
sondern ein unbestimmtes fadenartiges Anreihungssystem von lauter Vor-
räumen; nur wenn man von dieser Längen-Richtung absieht, bietet sich
das Bild der Einschachtelung dar: Schaale auf Schaale, Zwiebelhaut
auf Zwiebelhaut und schließlich -- kein Kern, eine taube Nuß, d. h.
am Ende der langen Anlage, umgeben von Priesterwohnungen, Archiven,
Gehegen für die heiligen Thiere u. dergl. ein verhältnißmäßig sehr klei-
nes, monolithes, dunkles, nur dem Priester zugängliches, selten auch
nur ein Götterbild umschließendes Heiligthum. Daß dieser taube Kern
nicht in der Mitte, sondern am Ende einer langen Reihe von Vorräumen
liegt, ist freilich gerade das Wesentliche. Diese Räume sind eine große
Zeile für ungeheure Wallfahrten. Lauter Thor, lauter Empfangen,
Erwarten, Annähern und keine Ankunft, lauter Schwelle, ungelöstes
Räthsel, genau entsprechend der Bedeutung der ägyptischen Phantasie, s.
§. 432, 2. Die Prozession wird zuerst von einer mit colossalen Sphinx-
und Widder-Reihen eingefaßten Straße (Dromos) empfangen; einfache
Vorthore, eines oder auch mehrere, fassen dazwischen die Wallfahrer
wieder enger zusammen, um sie wieder freier zu entlassen; am Schlusse
dieser Allee werden sie von einem Prachtthore mit zwei hohen thurm-
artigen Flügel-Gebäuden (Pylonen), davor Obelisken und Colosse stehen,
empfangen und treten durch die Pforte in der Mitte, an deren Hohlkehle
das geheimnißvolle Symbol des geflügelten Globus angebracht ist. Es
folgt ein großer, unbedeckter Vorhof, dessen Umfassungs-Mauer mit
Säulen umstellt ist; man kann ihn mit dem Prachtthor als einen Pro-
pyläenbau bezeichnen und einen häufig vorkommenden zweiten Vorhof,
dem wieder Pylonen vorgesetzt sind und der dieselbe Gestalt hat, zur
Unterscheidung von ihm Pronaos nennen, doch nur, wenn der sogleich
zu nennende weitere Raum fehlt, was aber bei bedeutenderen Anlagen
nie der Fall ist; das Schwanken der Bezeichnungen ist übrigens tief in

weiter zu tragen und nicht vor Regen zu ſchützen hat, nur als große
Hohlkehle mit einem Leiſten darüber darſtellt. Hiemit ſind zugleich die
wenigen, einfachen Glieder genannt, zu denen ſich das wuchernde indiſche
Formenſpiel zuſammengezogen hat. Das ſcharfe Abgrenzen drückt ſich
auch darin aus, daß die ſenkrechten Kanten des ganzen Baus ebenfalls
mit Rundſtäben eingefaßt ſind. Reicher Sculptur- und Farbenſchmuck
bedeckt alle Flächen, hat aber, da Giebel und Fries fehlen, nicht die
natürlich ſich ergebenden Hauptſtellen zu beſonderer, reicher Concentrirung
gefunden.

2. Neben der klaren Meſſung, welche demnach die Einzelformen
nunmehr beherrſcht und vereinfacht, drängt ſich in der Anlage des Ganzen
auch hier noch die orientaliſche Ungemeſſenheit hervor. Der ägyptiſche
Tempelbau iſt nicht eigentlich ein „Einſchachtelungs Syſtem“ (Kugler),
ſondern ein unbeſtimmtes fadenartiges Anreihungsſyſtem von lauter Vor-
räumen; nur wenn man von dieſer Längen-Richtung abſieht, bietet ſich
das Bild der Einſchachtelung dar: Schaale auf Schaale, Zwiebelhaut
auf Zwiebelhaut und ſchließlich — kein Kern, eine taube Nuß, d. h.
am Ende der langen Anlage, umgeben von Prieſterwohnungen, Archiven,
Gehegen für die heiligen Thiere u. dergl. ein verhältnißmäßig ſehr klei-
nes, monolithes, dunkles, nur dem Prieſter zugängliches, ſelten auch
nur ein Götterbild umſchließendes Heiligthum. Daß dieſer taube Kern
nicht in der Mitte, ſondern am Ende einer langen Reihe von Vorräumen
liegt, iſt freilich gerade das Weſentliche. Dieſe Räume ſind eine große
Zeile für ungeheure Wallfahrten. Lauter Thor, lauter Empfangen,
Erwarten, Annähern und keine Ankunft, lauter Schwelle, ungelöstes
Räthſel, genau entſprechend der Bedeutung der ägyptiſchen Phantaſie, ſ.
§. 432, 2. Die Prozeſſion wird zuerſt von einer mit coloſſalen Sphinx-
und Widder-Reihen eingefaßten Straße (Dromos) empfangen; einfache
Vorthore, eines oder auch mehrere, faſſen dazwiſchen die Wallfahrer
wieder enger zuſammen, um ſie wieder freier zu entlaſſen; am Schluſſe
dieſer Allee werden ſie von einem Prachtthore mit zwei hohen thurm-
artigen Flügel-Gebäuden (Pylonen), davor Obelisken und Coloſſe ſtehen,
empfangen und treten durch die Pforte in der Mitte, an deren Hohlkehle
das geheimnißvolle Symbol des geflügelten Globus angebracht iſt. Es
folgt ein großer, unbedeckter Vorhof, deſſen Umfaſſungs-Mauer mit
Säulen umſtellt iſt; man kann ihn mit dem Prachtthor als einen Pro-
pyläenbau bezeichnen und einen häufig vorkommenden zweiten Vorhof,
dem wieder Pylonen vorgeſetzt ſind und der dieſelbe Geſtalt hat, zur
Unterſcheidung von ihm Pronaos nennen, doch nur, wenn der ſogleich
zu nennende weitere Raum fehlt, was aber bei bedeutenderen Anlagen
nie der Fall iſt; das Schwanken der Bezeichnungen iſt übrigens tief in

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[282/0122] weiter zu tragen und nicht vor Regen zu ſchützen hat, nur als große Hohlkehle mit einem Leiſten darüber darſtellt. Hiemit ſind zugleich die wenigen, einfachen Glieder genannt, zu denen ſich das wuchernde indiſche Formenſpiel zuſammengezogen hat. Das ſcharfe Abgrenzen drückt ſich auch darin aus, daß die ſenkrechten Kanten des ganzen Baus ebenfalls mit Rundſtäben eingefaßt ſind. Reicher Sculptur- und Farbenſchmuck bedeckt alle Flächen, hat aber, da Giebel und Fries fehlen, nicht die natürlich ſich ergebenden Hauptſtellen zu beſonderer, reicher Concentrirung gefunden. 2. Neben der klaren Meſſung, welche demnach die Einzelformen nunmehr beherrſcht und vereinfacht, drängt ſich in der Anlage des Ganzen auch hier noch die orientaliſche Ungemeſſenheit hervor. Der ägyptiſche Tempelbau iſt nicht eigentlich ein „Einſchachtelungs Syſtem“ (Kugler), ſondern ein unbeſtimmtes fadenartiges Anreihungsſyſtem von lauter Vor- räumen; nur wenn man von dieſer Längen-Richtung abſieht, bietet ſich das Bild der Einſchachtelung dar: Schaale auf Schaale, Zwiebelhaut auf Zwiebelhaut und ſchließlich — kein Kern, eine taube Nuß, d. h. am Ende der langen Anlage, umgeben von Prieſterwohnungen, Archiven, Gehegen für die heiligen Thiere u. dergl. ein verhältnißmäßig ſehr klei- nes, monolithes, dunkles, nur dem Prieſter zugängliches, ſelten auch nur ein Götterbild umſchließendes Heiligthum. Daß dieſer taube Kern nicht in der Mitte, ſondern am Ende einer langen Reihe von Vorräumen liegt, iſt freilich gerade das Weſentliche. Dieſe Räume ſind eine große Zeile für ungeheure Wallfahrten. Lauter Thor, lauter Empfangen, Erwarten, Annähern und keine Ankunft, lauter Schwelle, ungelöstes Räthſel, genau entſprechend der Bedeutung der ägyptiſchen Phantaſie, ſ. §. 432, 2. Die Prozeſſion wird zuerſt von einer mit coloſſalen Sphinx- und Widder-Reihen eingefaßten Straße (Dromos) empfangen; einfache Vorthore, eines oder auch mehrere, faſſen dazwiſchen die Wallfahrer wieder enger zuſammen, um ſie wieder freier zu entlaſſen; am Schluſſe dieſer Allee werden ſie von einem Prachtthore mit zwei hohen thurm- artigen Flügel-Gebäuden (Pylonen), davor Obelisken und Coloſſe ſtehen, empfangen und treten durch die Pforte in der Mitte, an deren Hohlkehle das geheimnißvolle Symbol des geflügelten Globus angebracht iſt. Es folgt ein großer, unbedeckter Vorhof, deſſen Umfaſſungs-Mauer mit Säulen umſtellt iſt; man kann ihn mit dem Prachtthor als einen Pro- pyläenbau bezeichnen und einen häufig vorkommenden zweiten Vorhof, dem wieder Pylonen vorgeſetzt ſind und der dieſelbe Geſtalt hat, zur Unterſcheidung von ihm Pronaos nennen, doch nur, wenn der ſogleich zu nennende weitere Raum fehlt, was aber bei bedeutenderen Anlagen nie der Fall iſt; das Schwanken der Bezeichnungen iſt übrigens tief in

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/122>, abgerufen am 21.11.2024.