Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
Allgemeinen" beschränkt und gebunden. Ein solcher kann sich in der
Allgemeinen“ beſchränkt und gebunden. Ein ſolcher kann ſich in der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0116" n="608"/> Allgemeinen“ beſchränkt und gebunden. Ein ſolcher kann ſich in der<lb/> Malerei nicht bilden wie in der jenem Ideal innig angehörigen Sculptur.<lb/> Wohl zeigt ſich auf dem Standpuncte der mythiſchen Anſchauung auch<lb/> bei ihr ein Anſatz zu einem Geſtaltenkreiſe ſtehender Typen, für deren<lb/> Behandlung plaſtiſche Gleichmäßigkeit des Styls gefordert wurde; allein<lb/> wie wenige ſind deren geweſen: Chriſtus, Paulus, Petrus, etwa noch<lb/> Johannes, das iſt im Grund Alles; und wie bald dringt auch in dieſe<lb/> wenigen Typen die Individualität, die unendliche Verſchiedenheit der<lb/> Auffaſſung ein, bis ſie endlich den transcendenten Geſtalten-Auszug ſprengt<lb/> und in die ungemeſſene Vielheit der geſchichtlichen Charakterwelt auflöst!<lb/> Es geht dann die rein maleriſche und die mehr plaſtiſche Stylrichtung<lb/> auseinander. Wir haben geſehen, daß auch die letztere zwar ein ſpar-<lb/> ſameres Maaß des Beſonderen und Individuellen, als die erſtere, aber<lb/> doch ein volleres, als die Bildnerkunſt, ihren Geſtalten zuwiegt; nun, da<lb/> von der dieſe Züge beherrſchenden Willens-Einheit die Rede iſt, haben wir<lb/> den Unterſchied der zwei Style nach dieſer Seite noch einmal in’s Auge<lb/> zu faſſen. Wie die mehr bildneriſche Richtung die empiriſchen Formen ſtrenger<lb/> reduzirt, ſo wird ſie auch die ſie beherrſchende Kraft, den inneren ethiſchen<lb/> Kernpunct einfacher auffaſſen. Das negativ Pathetiſche liegt ihr ferner, der<lb/> ungetheilte Guß und Fluß, womit ein reines Gemüth oder ein ſtarker Wille<lb/> als ſtetige poſitive Wärme die ganze perſönliche Erſcheinung ausfüllt, iſt ihr<lb/> Gebiet, der großartige Ernſt einer einfachen männlichen Würde eine ihrer<lb/> mächtigſten Wirkungen. Die ernſten Männergeſtalten der großen italieni-<lb/> ſchen Meiſter, eines Leonardo da Vinci (vorzüglich im Abendmahl), eines<lb/> Raphael (vorzüglich in den Stanzen und Tapeten) haben wir ſchon in<lb/> anderem Zuſammenhang (zu §. 679 und 681) angeführt und in ge-<lb/> wiſſem Sinne plaſtiſche Naturen genannt. Und doch wie tief iſt dieſer<lb/> Unterſchied, wenn man insbeſondere bedenkt, daß dieſe würdevolle<lb/> Männerwelt aus der immer fließenden Quelle des realen Stoffgebiets<lb/> geſchöpft in’s Unendliche fortſetzbar iſt, während dort der Kreis geſchloſſen<lb/> war! Vom ſtreng maleriſchen Styl dagegen unterſcheidet ſich dieſer<lb/> mehr plaſtiſche nothwendig durch eine ſehr beſtimmte Grenze, wenn man<lb/> den Begriff des Charakters im allgemeinen, nur formellen Sinne nimmt.<lb/> Dann kann er ebenſogut, als die Herrſchaft des Willens über das Na-<lb/> türliche und angeborne Individuelle, auch eine Verhärtung oder zerſtreute<lb/> Entfeſſlung des letzteren, alſo ein blos Charakteriſtiſches, das ſich ſtatt<lb/> des Charakters ausgebildet hat, er kann ſogar völlige Charakterloſigkeit<lb/> bezeichnen. Wir haben auch dieſen Stoff von der Sculptur abgewehrt<lb/> (§. 625 Anm. 2); der plaſtiſche Styl in der Malerei wehrt ihn ebenfalls<lb/> ab, der entgegengeſetzte nicht. Der Jähzornige, Eitle, Geſchwätzige, der<lb/> Säufer, Spieler, Geizhals, Lump, Windbeutel hat hier freien Eintritt;<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [608/0116]
Allgemeinen“ beſchränkt und gebunden. Ein ſolcher kann ſich in der
Malerei nicht bilden wie in der jenem Ideal innig angehörigen Sculptur.
Wohl zeigt ſich auf dem Standpuncte der mythiſchen Anſchauung auch
bei ihr ein Anſatz zu einem Geſtaltenkreiſe ſtehender Typen, für deren
Behandlung plaſtiſche Gleichmäßigkeit des Styls gefordert wurde; allein
wie wenige ſind deren geweſen: Chriſtus, Paulus, Petrus, etwa noch
Johannes, das iſt im Grund Alles; und wie bald dringt auch in dieſe
wenigen Typen die Individualität, die unendliche Verſchiedenheit der
Auffaſſung ein, bis ſie endlich den transcendenten Geſtalten-Auszug ſprengt
und in die ungemeſſene Vielheit der geſchichtlichen Charakterwelt auflöst!
Es geht dann die rein maleriſche und die mehr plaſtiſche Stylrichtung
auseinander. Wir haben geſehen, daß auch die letztere zwar ein ſpar-
ſameres Maaß des Beſonderen und Individuellen, als die erſtere, aber
doch ein volleres, als die Bildnerkunſt, ihren Geſtalten zuwiegt; nun, da
von der dieſe Züge beherrſchenden Willens-Einheit die Rede iſt, haben wir
den Unterſchied der zwei Style nach dieſer Seite noch einmal in’s Auge
zu faſſen. Wie die mehr bildneriſche Richtung die empiriſchen Formen ſtrenger
reduzirt, ſo wird ſie auch die ſie beherrſchende Kraft, den inneren ethiſchen
Kernpunct einfacher auffaſſen. Das negativ Pathetiſche liegt ihr ferner, der
ungetheilte Guß und Fluß, womit ein reines Gemüth oder ein ſtarker Wille
als ſtetige poſitive Wärme die ganze perſönliche Erſcheinung ausfüllt, iſt ihr
Gebiet, der großartige Ernſt einer einfachen männlichen Würde eine ihrer
mächtigſten Wirkungen. Die ernſten Männergeſtalten der großen italieni-
ſchen Meiſter, eines Leonardo da Vinci (vorzüglich im Abendmahl), eines
Raphael (vorzüglich in den Stanzen und Tapeten) haben wir ſchon in
anderem Zuſammenhang (zu §. 679 und 681) angeführt und in ge-
wiſſem Sinne plaſtiſche Naturen genannt. Und doch wie tief iſt dieſer
Unterſchied, wenn man insbeſondere bedenkt, daß dieſe würdevolle
Männerwelt aus der immer fließenden Quelle des realen Stoffgebiets
geſchöpft in’s Unendliche fortſetzbar iſt, während dort der Kreis geſchloſſen
war! Vom ſtreng maleriſchen Styl dagegen unterſcheidet ſich dieſer
mehr plaſtiſche nothwendig durch eine ſehr beſtimmte Grenze, wenn man
den Begriff des Charakters im allgemeinen, nur formellen Sinne nimmt.
Dann kann er ebenſogut, als die Herrſchaft des Willens über das Na-
türliche und angeborne Individuelle, auch eine Verhärtung oder zerſtreute
Entfeſſlung des letzteren, alſo ein blos Charakteriſtiſches, das ſich ſtatt
des Charakters ausgebildet hat, er kann ſogar völlige Charakterloſigkeit
bezeichnen. Wir haben auch dieſen Stoff von der Sculptur abgewehrt
(§. 625 Anm. 2); der plaſtiſche Styl in der Malerei wehrt ihn ebenfalls
ab, der entgegengeſetzte nicht. Der Jähzornige, Eitle, Geſchwätzige, der
Säufer, Spieler, Geizhals, Lump, Windbeutel hat hier freien Eintritt;
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