lichen. Der plastische Styl dagegen reagirt, kühlt, mahnt an die Strenge und Gesetzlichkeit. Verkennt dieser seine Schranke, eignet er sich nichts von dem bewegteren Bruche der ächt malerischen Formgebung an, so ge- geräth er, wenn er sich mehr zu starken Formen neigt, in Härte und Schwulst, wenn er dem runderen Fluß der Linie nachgeht, in jenen Frost, von dem schon die Rede gewesen ist. Da die Wärme und Bewegtheit, wohin der andere Styl drängt, nach den Grenzen der Musik und Poesie hin- führt, so scheint es widersprechend, wenn man sagt, der plastische Styl verfalle, wenn er einseitig wird, leicht auch in ein körperloses Dichten. Allein wir haben gesehen, daß die Zeichnung, wie sie das Plastische in der Malerei ist, so auch das Moment der Erfindung, den Begriff darstellt. Da nun in der Musik und Poesie sich die innere Erfindung frei im Elemente der Zeit entfaltet, so ist klar, daß der Styl der Malerei, der die Erschei- nungen weniger in die volle Körperlichkeit herausführt, nach dieser Seite sich leicht muß verirren können. Wir werden an anderer Stelle noch von der Ideen-Malerei reden. Faßt man dagegen an der Musik und Poesie die Leichtigkeit der Bewegung, das Ungebundenere, weniger scharf Umrissene, Schwebende des Tons und der nur innerlich ange- schauten Gestalt in's Auge, so ist ebenso wahr, daß die entgegengesetzte, ächt malerische Richtung, wenn sie das Wahre der plastischen verschmäht und das Maaß verliert, nach dieser Seite hin in das Musikalische und Poetische sich verlieren muß: sie wird knochenlos, vernachläßigt entweder das Technische der Zeichnung überhaupt oder prinzipiell deren Aufgabe, die Bestimmtheit der Form, geräth daher in das Schweben und Nebeln, endlich in das Objectlose, Leere, wie wir in §. 673 gesehen. Dieß ist die eine Art der ihr nahe liegenden Verirrungen; die andere führt in das entgegengesetzte Extrem, nämlich eine falsche Art der Bestimmtheit. Auch hier scheint ein Widerspruch zu entstehen, wenn wir diese Klippe neben der eben genannten aufführen; allein die Farbe hat, wie wir gefunden, zweierlei Wirkungen: eine auflösende und eine andere, wodurch sie die Schärfen des Naturalistischen und Individualisirenden mit sich bringt. Die Ge- schichte wird zeigen, wie sich eine Schule mehr auf diese, eine andere mehr auf jene Seite wirft. Der Naturalismus und Individualismus in seiner Einseitigkeit kann aber selbst wieder auf zweierlei Abwege gerathen. Er kann sich, wie er soll, mit dem tiefen Seelen-Ausdruck vermählen, aber die Kanten und Ecken der Besonderheit zugleich in einer Härte und Trockenheit ausladen, die aller jener Rundung und Welle entbehrt, welche nur die wohlgeübte Zeichnung und das schöne Formgefühl entwickelt. Er kann aber auch vergessen, daß die Schärfe der Hervorhebung des Be- sonderen in der Malerei nur zum Zweck hat, den geistigen Ausdruck um so wärmer herauszuarbeiten, kann sich mit der Hälfte dieser Aufgabe
lichen. Der plaſtiſche Styl dagegen reagirt, kühlt, mahnt an die Strenge und Geſetzlichkeit. Verkennt dieſer ſeine Schranke, eignet er ſich nichts von dem bewegteren Bruche der ächt maleriſchen Formgebung an, ſo ge- geräth er, wenn er ſich mehr zu ſtarken Formen neigt, in Härte und Schwulſt, wenn er dem runderen Fluß der Linie nachgeht, in jenen Froſt, von dem ſchon die Rede geweſen iſt. Da die Wärme und Bewegtheit, wohin der andere Styl drängt, nach den Grenzen der Muſik und Poeſie hin- führt, ſo ſcheint es widerſprechend, wenn man ſagt, der plaſtiſche Styl verfalle, wenn er einſeitig wird, leicht auch in ein körperloſes Dichten. Allein wir haben geſehen, daß die Zeichnung, wie ſie das Plaſtiſche in der Malerei iſt, ſo auch das Moment der Erfindung, den Begriff darſtellt. Da nun in der Muſik und Poeſie ſich die innere Erfindung frei im Elemente der Zeit entfaltet, ſo iſt klar, daß der Styl der Malerei, der die Erſchei- nungen weniger in die volle Körperlichkeit herausführt, nach dieſer Seite ſich leicht muß verirren können. Wir werden an anderer Stelle noch von der Ideen-Malerei reden. Faßt man dagegen an der Muſik und Poeſie die Leichtigkeit der Bewegung, das Ungebundenere, weniger ſcharf Umriſſene, Schwebende des Tons und der nur innerlich ange- ſchauten Geſtalt in’s Auge, ſo iſt ebenſo wahr, daß die entgegengeſetzte, ächt maleriſche Richtung, wenn ſie das Wahre der plaſtiſchen verſchmäht und das Maaß verliert, nach dieſer Seite hin in das Muſikaliſche und Poetiſche ſich verlieren muß: ſie wird knochenlos, vernachläßigt entweder das Techniſche der Zeichnung überhaupt oder prinzipiell deren Aufgabe, die Beſtimmtheit der Form, geräth daher in das Schweben und Nebeln, endlich in das Objectloſe, Leere, wie wir in §. 673 geſehen. Dieß iſt die eine Art der ihr nahe liegenden Verirrungen; die andere führt in das entgegengeſetzte Extrem, nämlich eine falſche Art der Beſtimmtheit. Auch hier ſcheint ein Widerſpruch zu entſtehen, wenn wir dieſe Klippe neben der eben genannten aufführen; allein die Farbe hat, wie wir gefunden, zweierlei Wirkungen: eine auflöſende und eine andere, wodurch ſie die Schärfen des Naturaliſtiſchen und Individualiſirenden mit ſich bringt. Die Ge- ſchichte wird zeigen, wie ſich eine Schule mehr auf dieſe, eine andere mehr auf jene Seite wirft. Der Naturaliſmus und Individualiſmus in ſeiner Einſeitigkeit kann aber ſelbſt wieder auf zweierlei Abwege gerathen. Er kann ſich, wie er ſoll, mit dem tiefen Seelen-Ausdruck vermählen, aber die Kanten und Ecken der Beſonderheit zugleich in einer Härte und Trockenheit ausladen, die aller jener Rundung und Welle entbehrt, welche nur die wohlgeübte Zeichnung und das ſchöne Formgefühl entwickelt. Er kann aber auch vergeſſen, daß die Schärfe der Hervorhebung des Be- ſonderen in der Malerei nur zum Zweck hat, den geiſtigen Ausdruck um ſo wärmer herauszuarbeiten, kann ſich mit der Hälfte dieſer Aufgabe
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lichen. Der plaſtiſche Styl dagegen reagirt, kühlt, mahnt an die Strenge
und Geſetzlichkeit. Verkennt dieſer ſeine Schranke, eignet er ſich nichts
von dem bewegteren Bruche der ächt maleriſchen Formgebung an, ſo ge-
geräth er, wenn er ſich mehr zu ſtarken Formen neigt, in Härte und
Schwulſt, wenn er dem runderen Fluß der Linie nachgeht, in jenen Froſt,
von dem ſchon die Rede geweſen iſt. Da die Wärme und Bewegtheit,
wohin der andere Styl drängt, nach den Grenzen der Muſik und Poeſie hin-
führt, ſo ſcheint es widerſprechend, wenn man ſagt, der plaſtiſche Styl
verfalle, wenn er einſeitig wird, leicht auch in ein körperloſes Dichten.
Allein wir haben geſehen, daß die Zeichnung, wie ſie das Plaſtiſche in
der Malerei iſt, ſo auch das Moment der Erfindung, den Begriff darſtellt.
Da nun in der Muſik und Poeſie ſich die innere Erfindung frei im Elemente
der Zeit entfaltet, ſo iſt klar, daß der Styl der Malerei, der die Erſchei-
nungen weniger in die volle Körperlichkeit herausführt, nach dieſer Seite
ſich leicht muß verirren können. Wir werden an anderer Stelle noch
von der Ideen-Malerei reden. Faßt man dagegen an der Muſik und
Poeſie die Leichtigkeit der Bewegung, das Ungebundenere, weniger
ſcharf Umriſſene, Schwebende des Tons und der nur innerlich ange-
ſchauten Geſtalt in’s Auge, ſo iſt ebenſo wahr, daß die entgegengeſetzte,
ächt maleriſche Richtung, wenn ſie das Wahre der plaſtiſchen verſchmäht
und das Maaß verliert, nach dieſer Seite hin in das Muſikaliſche und
Poetiſche ſich verlieren muß: ſie wird knochenlos, vernachläßigt entweder
das Techniſche der Zeichnung überhaupt oder prinzipiell deren Aufgabe,
die Beſtimmtheit der Form, geräth daher in das Schweben und Nebeln,
endlich in das Objectloſe, Leere, wie wir in §. 673 geſehen. Dieß iſt
die eine Art der ihr nahe liegenden Verirrungen; die andere führt in das
entgegengeſetzte Extrem, nämlich eine falſche Art der Beſtimmtheit. Auch
hier ſcheint ein Widerſpruch zu entſtehen, wenn wir dieſe Klippe neben
der eben genannten aufführen; allein die Farbe hat, wie wir gefunden,
zweierlei Wirkungen: eine auflöſende und eine andere, wodurch ſie die
Schärfen des Naturaliſtiſchen und Individualiſirenden mit ſich bringt. Die Ge-
ſchichte wird zeigen, wie ſich eine Schule mehr auf dieſe, eine andere mehr
auf jene Seite wirft. Der Naturaliſmus und Individualiſmus in ſeiner
Einſeitigkeit kann aber ſelbſt wieder auf zweierlei Abwege gerathen. Er
kann ſich, wie er ſoll, mit dem tiefen Seelen-Ausdruck vermählen, aber
die Kanten und Ecken der Beſonderheit zugleich in einer Härte und
Trockenheit ausladen, die aller jener Rundung und Welle entbehrt, welche
nur die wohlgeübte Zeichnung und das ſchöne Formgefühl entwickelt.
Er kann aber auch vergeſſen, daß die Schärfe der Hervorhebung des Be-
ſonderen in der Malerei nur zum Zweck hat, den geiſtigen Ausdruck um
ſo wärmer herauszuarbeiten, kann ſich mit der Hälfte dieſer Aufgabe
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/88>, abgerufen am 16.07.2024.
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