in einen Satz aus Dur ausgeht, wir verkennen zwar die Wahrheit des Ausdrucks, die Folgerichtigkeit der Durchführung nicht, wenn in Mozart's Gmoll-Symphonie das Moll auch im Schlußsatze dominirt, aber wir gehen doch nicht ganz befriedigt davon hinweg; wir finden unwillkürlich den in Dur ausgedrückten Ernst oder Schmerz edler, männlicher, weil die Passivität subjectiver Empfindung nicht so stark sich geltend macht, die Empfindung tritt in Moll zu naturalistisch wahr mit ihrer Gepreßtheit und Weichheit hervor, sie ist gleichsam noch nicht zu freier künstlerischer Idealität erhoben. Und darum ist Dur doch das Normaltongeschlecht, Moll nur Ausnahme, nur ein Gegenbild zu Dur, das in der Regel nicht das Vorwiegende sein kann und selbst die religiöse Musik nicht einseitig beherrschen darf.
§. 773.
1.
Auf jeder Stufe des Tonsystems kann eine nach dem Dur- oder Moll- tongeschlecht gebildete Leiter errichtet werden. Es entsteht so eine Mehrzahl von Leitern, Tonarten, die nicht nur durch den verschiedenen Grundton, sondern auch innerhalb der Octave durch verschiedene Tonhöhe der einzelnen Tonstufen differiren, sofern mit der Verschiebung des Grundtons auch andere Leitertöne in gleichem Verhältnisse verändert, erhöht oder erniedrigt werden müssen, damit die Intervallverhältnisse innerhalb der jedesmaligen neuen Leiter dieselben bleiben. 2.Durch dieses Auseinandergehen in verschiedene Tonarten erhält das Tonsystem einen neuen Zuwachs an concreter Gliederung; unter den einzelnen Tonarten treten nämlich die mannigfaltigsten Verhältnisse näherer oder fernerer Ver- wandtschaft hervor, welche die Grundlage des für die Musik sehr wichtigen Verfahrens der Modulation, der Abwechslung mit Tonarten, abgeben; 3.deßgleichen erhält jede Tonart hauptsächlich durch die Höhe, die sie innerhalb des gesammten Tonsystems einnimmt, einen eigenthümlichen Klangcharakter.
1. Dem allgemeinen Unterschied zwischen Dur und Moll ist unter- und beigeordnet der zwischen den auf den einzelnen Stufen der Tonscala entstehenden Tonarten. Da was die spezielle Musikwissenschaft hierüber lehrt vorausgesetzt werden kann, so sind nur die allgemeinern, für die Composition bedeutenden Momente hervorzuheben. Und zwar zunächst die Entstehungs- und hieraus sich ergebenden Verwandtschaftsverhältnisse der verschiedenen Tonarten. In gewissem Sinne sind natürlich alle, selbst die auf den ent- legensten Stufen aufgebauten Tonarten unter einander verwandt, sofern alle in stetigem Fortgange letzlich aus Einer Tonart, die um einen festen Aus- gangspunct zu haben als "Normaltonart" angenommen wird, entstehen durch Erhöhung oder Erniedrigung einzelner Stufen um einen Halbton, die vorgenommen wird, um das Intervallverhältniß (nach Dur oder nach
in einen Satz aus Dur ausgeht, wir verkennen zwar die Wahrheit des Ausdrucks, die Folgerichtigkeit der Durchführung nicht, wenn in Mozart’s Gmoll-Symphonie das Moll auch im Schlußſatze dominirt, aber wir gehen doch nicht ganz befriedigt davon hinweg; wir finden unwillkürlich den in Dur ausgedrückten Ernſt oder Schmerz edler, männlicher, weil die Paſſivität ſubjectiver Empfindung nicht ſo ſtark ſich geltend macht, die Empfindung tritt in Moll zu naturaliſtiſch wahr mit ihrer Gepreßtheit und Weichheit hervor, ſie iſt gleichſam noch nicht zu freier künſtleriſcher Idealität erhoben. Und darum iſt Dur doch das Normaltongeſchlecht, Moll nur Ausnahme, nur ein Gegenbild zu Dur, das in der Regel nicht das Vorwiegende ſein kann und ſelbſt die religiöſe Muſik nicht einſeitig beherrſchen darf.
§. 773.
1.
Auf jeder Stufe des Tonſyſtems kann eine nach dem Dur- oder Moll- tongeſchlecht gebildete Leiter errichtet werden. Es entſteht ſo eine Mehrzahl von Leitern, Tonarten, die nicht nur durch den verſchiedenen Grundton, ſondern auch innerhalb der Octave durch verſchiedene Tonhöhe der einzelnen Tonſtufen differiren, ſofern mit der Verſchiebung des Grundtons auch andere Leitertöne in gleichem Verhältniſſe verändert, erhöht oder erniedrigt werden müſſen, damit die Intervallverhältniſſe innerhalb der jedesmaligen neuen Leiter dieſelben bleiben. 2.Durch dieſes Auseinandergehen in verſchiedene Tonarten erhält das Tonſyſtem einen neuen Zuwachs an concreter Gliederung; unter den einzelnen Tonarten treten nämlich die mannigfaltigſten Verhältniſſe näherer oder fernerer Ver- wandtſchaft hervor, welche die Grundlage des für die Muſik ſehr wichtigen Verfahrens der Modulation, der Abwechslung mit Tonarten, abgeben; 3.deßgleichen erhält jede Tonart hauptſächlich durch die Höhe, die ſie innerhalb des geſammten Tonſyſtems einnimmt, einen eigenthümlichen Klangcharakter.
1. Dem allgemeinen Unterſchied zwiſchen Dur und Moll iſt unter- und beigeordnet der zwiſchen den auf den einzelnen Stufen der Tonſcala entſtehenden Tonarten. Da was die ſpezielle Muſikwiſſenſchaft hierüber lehrt vorausgeſetzt werden kann, ſo ſind nur die allgemeinern, für die Compoſition bedeutenden Momente hervorzuheben. Und zwar zunächſt die Entſtehungs- und hieraus ſich ergebenden Verwandtſchaftsverhältniſſe der verſchiedenen Tonarten. In gewiſſem Sinne ſind natürlich alle, ſelbſt die auf den ent- legenſten Stufen aufgebauten Tonarten unter einander verwandt, ſofern alle in ſtetigem Fortgange letzlich aus Einer Tonart, die um einen feſten Aus- gangspunct zu haben als „Normaltonart“ angenommen wird, entſtehen durch Erhöhung oder Erniedrigung einzelner Stufen um einen Halbton, die vorgenommen wird, um das Intervallverhältniß (nach Dur oder nach
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[872/0110]
in einen Satz aus Dur ausgeht, wir verkennen zwar die Wahrheit des
Ausdrucks, die Folgerichtigkeit der Durchführung nicht, wenn in Mozart’s
Gmoll-Symphonie das Moll auch im Schlußſatze dominirt, aber wir gehen
doch nicht ganz befriedigt davon hinweg; wir finden unwillkürlich den in
Dur ausgedrückten Ernſt oder Schmerz edler, männlicher, weil die Paſſivität
ſubjectiver Empfindung nicht ſo ſtark ſich geltend macht, die Empfindung
tritt in Moll zu naturaliſtiſch wahr mit ihrer Gepreßtheit und Weichheit
hervor, ſie iſt gleichſam noch nicht zu freier künſtleriſcher Idealität erhoben.
Und darum iſt Dur doch das Normaltongeſchlecht, Moll nur Ausnahme,
nur ein Gegenbild zu Dur, das in der Regel nicht das Vorwiegende ſein
kann und ſelbſt die religiöſe Muſik nicht einſeitig beherrſchen darf.
§. 773.
Auf jeder Stufe des Tonſyſtems kann eine nach dem Dur- oder Moll-
tongeſchlecht gebildete Leiter errichtet werden. Es entſteht ſo eine Mehrzahl von
Leitern, Tonarten, die nicht nur durch den verſchiedenen Grundton, ſondern
auch innerhalb der Octave durch verſchiedene Tonhöhe der einzelnen Tonſtufen
differiren, ſofern mit der Verſchiebung des Grundtons auch andere Leitertöne
in gleichem Verhältniſſe verändert, erhöht oder erniedrigt werden müſſen, damit
die Intervallverhältniſſe innerhalb der jedesmaligen neuen Leiter dieſelben bleiben.
Durch dieſes Auseinandergehen in verſchiedene Tonarten erhält das Tonſyſtem
einen neuen Zuwachs an concreter Gliederung; unter den einzelnen Tonarten
treten nämlich die mannigfaltigſten Verhältniſſe näherer oder fernerer Ver-
wandtſchaft hervor, welche die Grundlage des für die Muſik ſehr wichtigen
Verfahrens der Modulation, der Abwechslung mit Tonarten, abgeben;
deßgleichen erhält jede Tonart hauptſächlich durch die Höhe, die ſie innerhalb
des geſammten Tonſyſtems einnimmt, einen eigenthümlichen Klangcharakter.
1. Dem allgemeinen Unterſchied zwiſchen Dur und Moll iſt unter-
und beigeordnet der zwiſchen den auf den einzelnen Stufen der Tonſcala
entſtehenden Tonarten. Da was die ſpezielle Muſikwiſſenſchaft hierüber lehrt
vorausgeſetzt werden kann, ſo ſind nur die allgemeinern, für die Compoſition
bedeutenden Momente hervorzuheben. Und zwar zunächſt die Entſtehungs-
und hieraus ſich ergebenden Verwandtſchaftsverhältniſſe der verſchiedenen
Tonarten. In gewiſſem Sinne ſind natürlich alle, ſelbſt die auf den ent-
legenſten Stufen aufgebauten Tonarten unter einander verwandt, ſofern alle
in ſtetigem Fortgange letzlich aus Einer Tonart, die um einen feſten Aus-
gangspunct zu haben als „Normaltonart“ angenommen wird, entſtehen
durch Erhöhung oder Erniedrigung einzelner Stufen um einen Halbton,
die vorgenommen wird, um das Intervallverhältniß (nach Dur oder nach
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 872. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/110>, abgerufen am 21.11.2024.
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