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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Der Versuch, in einer Ouvertüre den speziellen Gang der Handlung
vorauszugeben, ist schon in §. 792 als ein widersprechender bezeichnet. Aber
auch die dramatische Charakteristik darf nicht überconcret sein, sie muß wohl
das ganze Stimmungsgebiet, das die Handlung umschreibt, umfassen, wie
z. B. die Titusouvertüre der Oper selbst entsprechend, hauptsächlich Kampfes-
muth, Zärtlichkeit, Wirrnisse gegen einander streitender Massen zeichnen zu
wollen scheint, aber sie kann qualitativ diese Hauptstimmungen des Drama's
nicht beschreiben, sondern nur Anklänge daran geben. Die Ouvertüre ist
nicht eine Inhaltsanzeige oder gar ein Extract, sondern ein Analogon
des musikalischen Drama's, wie z. B. ein lyrisches Gedicht, das Liebe und
Treue singt, ein Analogon eines Epos oder eines Drama's ist, in welchem
dasselbe Thema zur Breite eines concreten geschichtlichen Verlaufs sich aus-
dehnt. Auch die dramatische Ouvertüre ist ihrer Kunstform nach noch Lyrik,
wie die Ballade es gleichfalls ist; beide können eine Anschaulichkeit nicht
bezwecken, die über ihre Grenzen hinausgeht. Nichts versteht sich so von
selbst wie dieser Satz, und gegen nichts wird deßungeachtet mehr verstoßen,
obwohl Mozart und Mendelssohn so klar zeigen, daß die Beschränkung auf
die "Analogie" keine Schranke für den Künstler ist, sondern ihm Raum
genug zu reicher Ideenentwicklung verstattet, ja gerade die wahre Freiheit
ihm erst eröffnet, d. h. die Freiheit, nicht zu viel in die Ouvertüre hinein-
drängen, nicht zu bestimmt sein zu müssen, sondern die musikalischen
Gedanken in aller Weite und Fülle sich ausgestalten lassen zu können. Es
ist ein vom Wesen der Musik abkommender Empirismus, in der Ouvertüre
die Oper selbst zu suchen; die Musik hat Mittel genug, eine Stimmung
und so auch die der Oper in mehrfacher Art, in directer, aber auch in
indirecter, mehr andeutender Weise zu schildern; das Letztere bezweckt die
Ouvertüre, sie wäre höchst überflüssig, wenn sie schon die Oper selbst wäre,
sie hat psychologische Begründung nur, wenn sie als zur Sache selbst erst
überleitende Vorandeutung gefaßt wird, sie kann Interesse und Wohlgefallen
erregen eben nur durch dieses Schweben in der Mitte zwischen ganz allgemein
gehaltener Einleitungsmusik und der in der Oper selbst erst auftretenden
concreten Individualisirung; sobald sie diese Mitte verläßt, wird sie entweder
zu unbestimmt oder zu bestimmt und damit gerade unklar, weil ihre con-
creten Beziehungen unverstanden bleiben. Einzelne Stellen aus der Oper
selbst finden ihren Ort in der Ouvertüre nicht in der Meinung, diese müsse
die Hauptgedanken der Oper in sich vereinigen, sondern, wenn es geschieht,
blos deßwegen, weil der Componist die Ueberzeugung hegt, in solchen Stellen
so sehr den treffendsten Ausdruck der Hauptstimmung des Ganzen zu haben,
daß auch für die Ouvertüre ein besserer und kräftigerer als sie nicht zu finden
wäre. Sonst aber, abgesehen von verfehlter Detailmalerei, soll die Ouvertüre
allerdings der unmittelbarste Wiederschein der Oper sein, sie soll den Ernst,

Der Verſuch, in einer Ouvertüre den ſpeziellen Gang der Handlung
vorauszugeben, iſt ſchon in §. 792 als ein widerſprechender bezeichnet. Aber
auch die dramatiſche Charakteriſtik darf nicht überconcret ſein, ſie muß wohl
das ganze Stimmungsgebiet, das die Handlung umſchreibt, umfaſſen, wie
z. B. die Titusouvertüre der Oper ſelbſt entſprechend, hauptſächlich Kampfes-
muth, Zärtlichkeit, Wirrniſſe gegen einander ſtreitender Maſſen zeichnen zu
wollen ſcheint, aber ſie kann qualitativ dieſe Hauptſtimmungen des Drama’s
nicht beſchreiben, ſondern nur Anklänge daran geben. Die Ouvertüre iſt
nicht eine Inhaltsanzeige oder gar ein Extract, ſondern ein Analogon
des muſikaliſchen Drama’s, wie z. B. ein lyriſches Gedicht, das Liebe und
Treue ſingt, ein Analogon eines Epos oder eines Drama’s iſt, in welchem
daſſelbe Thema zur Breite eines concreten geſchichtlichen Verlaufs ſich aus-
dehnt. Auch die dramatiſche Ouvertüre iſt ihrer Kunſtform nach noch Lyrik,
wie die Ballade es gleichfalls iſt; beide können eine Anſchaulichkeit nicht
bezwecken, die über ihre Grenzen hinausgeht. Nichts verſteht ſich ſo von
ſelbſt wie dieſer Satz, und gegen nichts wird deßungeachtet mehr verſtoßen,
obwohl Mozart und Mendelsſohn ſo klar zeigen, daß die Beſchränkung auf
die „Analogie“ keine Schranke für den Künſtler iſt, ſondern ihm Raum
genug zu reicher Ideenentwicklung verſtattet, ja gerade die wahre Freiheit
ihm erſt eröffnet, d. h. die Freiheit, nicht zu viel in die Ouvertüre hinein-
drängen, nicht zu beſtimmt ſein zu müſſen, ſondern die muſikaliſchen
Gedanken in aller Weite und Fülle ſich ausgeſtalten laſſen zu können. Es
iſt ein vom Weſen der Muſik abkommender Empirismus, in der Ouvertüre
die Oper ſelbſt zu ſuchen; die Muſik hat Mittel genug, eine Stimmung
und ſo auch die der Oper in mehrfacher Art, in directer, aber auch in
indirecter, mehr andeutender Weiſe zu ſchildern; das Letztere bezweckt die
Ouvertüre, ſie wäre höchſt überflüſſig, wenn ſie ſchon die Oper ſelbſt wäre,
ſie hat pſychologiſche Begründung nur, wenn ſie als zur Sache ſelbſt erſt
überleitende Vorandeutung gefaßt wird, ſie kann Intereſſe und Wohlgefallen
erregen eben nur durch dieſes Schweben in der Mitte zwiſchen ganz allgemein
gehaltener Einleitungsmuſik und der in der Oper ſelbſt erſt auftretenden
concreten Individualiſirung; ſobald ſie dieſe Mitte verläßt, wird ſie entweder
zu unbeſtimmt oder zu beſtimmt und damit gerade unklar, weil ihre con-
creten Beziehungen unverſtanden bleiben. Einzelne Stellen aus der Oper
ſelbſt finden ihren Ort in der Ouvertüre nicht in der Meinung, dieſe müſſe
die Hauptgedanken der Oper in ſich vereinigen, ſondern, wenn es geſchieht,
blos deßwegen, weil der Componiſt die Ueberzeugung hegt, in ſolchen Stellen
ſo ſehr den treffendſten Ausdruck der Hauptſtimmung des Ganzen zu haben,
daß auch für die Ouvertüre ein beſſerer und kräftigerer als ſie nicht zu finden
wäre. Sonſt aber, abgeſehen von verfehlter Detailmalerei, ſoll die Ouvertüre
allerdings der unmittelbarſte Wiederſchein der Oper ſein, ſie ſoll den Ernſt,

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[1078/0316] Der Verſuch, in einer Ouvertüre den ſpeziellen Gang der Handlung vorauszugeben, iſt ſchon in §. 792 als ein widerſprechender bezeichnet. Aber auch die dramatiſche Charakteriſtik darf nicht überconcret ſein, ſie muß wohl das ganze Stimmungsgebiet, das die Handlung umſchreibt, umfaſſen, wie z. B. die Titusouvertüre der Oper ſelbſt entſprechend, hauptſächlich Kampfes- muth, Zärtlichkeit, Wirrniſſe gegen einander ſtreitender Maſſen zeichnen zu wollen ſcheint, aber ſie kann qualitativ dieſe Hauptſtimmungen des Drama’s nicht beſchreiben, ſondern nur Anklänge daran geben. Die Ouvertüre iſt nicht eine Inhaltsanzeige oder gar ein Extract, ſondern ein Analogon des muſikaliſchen Drama’s, wie z. B. ein lyriſches Gedicht, das Liebe und Treue ſingt, ein Analogon eines Epos oder eines Drama’s iſt, in welchem daſſelbe Thema zur Breite eines concreten geſchichtlichen Verlaufs ſich aus- dehnt. Auch die dramatiſche Ouvertüre iſt ihrer Kunſtform nach noch Lyrik, wie die Ballade es gleichfalls iſt; beide können eine Anſchaulichkeit nicht bezwecken, die über ihre Grenzen hinausgeht. Nichts verſteht ſich ſo von ſelbſt wie dieſer Satz, und gegen nichts wird deßungeachtet mehr verſtoßen, obwohl Mozart und Mendelsſohn ſo klar zeigen, daß die Beſchränkung auf die „Analogie“ keine Schranke für den Künſtler iſt, ſondern ihm Raum genug zu reicher Ideenentwicklung verſtattet, ja gerade die wahre Freiheit ihm erſt eröffnet, d. h. die Freiheit, nicht zu viel in die Ouvertüre hinein- drängen, nicht zu beſtimmt ſein zu müſſen, ſondern die muſikaliſchen Gedanken in aller Weite und Fülle ſich ausgeſtalten laſſen zu können. Es iſt ein vom Weſen der Muſik abkommender Empirismus, in der Ouvertüre die Oper ſelbſt zu ſuchen; die Muſik hat Mittel genug, eine Stimmung und ſo auch die der Oper in mehrfacher Art, in directer, aber auch in indirecter, mehr andeutender Weiſe zu ſchildern; das Letztere bezweckt die Ouvertüre, ſie wäre höchſt überflüſſig, wenn ſie ſchon die Oper ſelbſt wäre, ſie hat pſychologiſche Begründung nur, wenn ſie als zur Sache ſelbſt erſt überleitende Vorandeutung gefaßt wird, ſie kann Intereſſe und Wohlgefallen erregen eben nur durch dieſes Schweben in der Mitte zwiſchen ganz allgemein gehaltener Einleitungsmuſik und der in der Oper ſelbſt erſt auftretenden concreten Individualiſirung; ſobald ſie dieſe Mitte verläßt, wird ſie entweder zu unbeſtimmt oder zu beſtimmt und damit gerade unklar, weil ihre con- creten Beziehungen unverſtanden bleiben. Einzelne Stellen aus der Oper ſelbſt finden ihren Ort in der Ouvertüre nicht in der Meinung, dieſe müſſe die Hauptgedanken der Oper in ſich vereinigen, ſondern, wenn es geſchieht, blos deßwegen, weil der Componiſt die Ueberzeugung hegt, in ſolchen Stellen ſo ſehr den treffendſten Ausdruck der Hauptſtimmung des Ganzen zu haben, daß auch für die Ouvertüre ein beſſerer und kräftigerer als ſie nicht zu finden wäre. Sonſt aber, abgeſehen von verfehlter Detailmalerei, ſoll die Ouvertüre allerdings der unmittelbarſte Wiederſchein der Oper ſein, ſie ſoll den Ernſt,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1078. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/316>, abgerufen am 22.11.2024.