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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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rasch bewegen, Angst und stille Beschauung kann säumen, schweben, gleiten
u. s. w. Wenn nun die bestimmte Qualität der Stimmung in der Musik
erst durch die Melodie, d. h. die Bewegung in den Verhältnissen der Tiefe
und Höhe, in der Poesie dieselbe Qualität, aber als klar vorgestellter Inhalt,
durch die Sprache hinzukommt, so ergibt sich weiter, daß zwar in beiden
Gebieten die Takt-Art gleichförmig durch das ganze Kunstwerk geht, in der
Poesie aber, was dem Gebiete des unarticulirten Tons angehört, ganz an
das Gesetz der gleichförmigen Wiederkehr gefesselt bleibt, während die Musik
im Tonleben selbst den individuellen Wechsel innerhalb einer Stimmung,
ein Hauptmoment ihrer Qualität, zum Ausdruck bringt. Es treten zwar
Wechsel im poetischen Rhythmus ein, Verse von ungleicher Länge und Messung
folgen sich in fortlaufender Reihe, oder ein reicherer Unterschied, buntere
Verschlingung gruppirt sich zur Strophe, gleiche und ungleiche Strophen
abwechselnd stellen eine erweiterte Gruppe dar, aber auch in diesen kunst-
vollen Gebäuden ist überall symmetrische Wiederkehr das Gesetz, während
die Stimmung, in der Sprache ausgedrückt, wechselt. Gerade in der Ver-
bindung mit der eigentlichen Musik fällt dieß doppelt auf: in den Strophen
wiederholt sich mit demselben Rhythmus dieselbe Melodie, während der
Inhalt mit seiner Stimmung sich ändert. Das ist im Lyrischen; die Kunst-
werke der objectiven, ein umfassenderes Weltbild darstellenden Zweige aber
verzichten, das Epos überall, das Drama wenigstens in der neueren Zeit,
auch auf jenen Grad des Wechsels und bewegen sich bei den tiefsten Unter-
schieden des Inhalts in der Form gleichförmiger Wiederkehr einfacher Verse.
Der qualificirte Ausdruck der Sprache liegt nun zwar, wie wir sogleich
sehen werden, nicht wie ein gleichgültiger Stoff im Rahmen des Rhythmus,
allein der innerste Gehalt schwebt doch, obgleich mit ihm empfangen und
lebendig vereint, zugleich frei und hoch über diesem Elemente.

§. 858.

Allerdings gewinnt jedoch der formelle Ausdruck der Stimmung einen
weitern Zuwachs durch ein Verhältniß lebendigen Widerstreits zwischen Rhyth-
mus und Sprache im Versbau, worin beide ihre Selbständigkeit, aber eben-
dadurch um so inniger ihre Vereinigung betonen. Der Vortrag gleicht theilweise
diesen Kampf aus, belebt aber auch von seiner Seite den Unterschied und bringt
einen weiteren Anklang des eigentlich musikalischen Elements hinzu.

Das rhythmische Maaß und die Sprache verbinden sich und fliehen
sich in ihrer Verbindung, bekämpfen sich, um desto ausdrücklicher verbunden
zu erscheinen. Es sind zwei Liebende, die sich entzweien und versöhnen und
in diesem Spiele die Natur eines Bundes offenbaren, der ein freies Opfer

raſch bewegen, Angſt und ſtille Beſchauung kann ſäumen, ſchweben, gleiten
u. ſ. w. Wenn nun die beſtimmte Qualität der Stimmung in der Muſik
erſt durch die Melodie, d. h. die Bewegung in den Verhältniſſen der Tiefe
und Höhe, in der Poeſie dieſelbe Qualität, aber als klar vorgeſtellter Inhalt,
durch die Sprache hinzukommt, ſo ergibt ſich weiter, daß zwar in beiden
Gebieten die Takt-Art gleichförmig durch das ganze Kunſtwerk geht, in der
Poeſie aber, was dem Gebiete des unarticulirten Tons angehört, ganz an
das Geſetz der gleichförmigen Wiederkehr gefeſſelt bleibt, während die Muſik
im Tonleben ſelbſt den individuellen Wechſel innerhalb einer Stimmung,
ein Hauptmoment ihrer Qualität, zum Ausdruck bringt. Es treten zwar
Wechſel im poetiſchen Rhythmus ein, Verſe von ungleicher Länge und Meſſung
folgen ſich in fortlaufender Reihe, oder ein reicherer Unterſchied, buntere
Verſchlingung gruppirt ſich zur Strophe, gleiche und ungleiche Strophen
abwechſelnd ſtellen eine erweiterte Gruppe dar, aber auch in dieſen kunſt-
vollen Gebäuden iſt überall ſymmetriſche Wiederkehr das Geſetz, während
die Stimmung, in der Sprache ausgedrückt, wechſelt. Gerade in der Ver-
bindung mit der eigentlichen Muſik fällt dieß doppelt auf: in den Strophen
wiederholt ſich mit demſelben Rhythmus dieſelbe Melodie, während der
Inhalt mit ſeiner Stimmung ſich ändert. Das iſt im Lyriſchen; die Kunſt-
werke der objectiven, ein umfaſſenderes Weltbild darſtellenden Zweige aber
verzichten, das Epos überall, das Drama wenigſtens in der neueren Zeit,
auch auf jenen Grad des Wechſels und bewegen ſich bei den tiefſten Unter-
ſchieden des Inhalts in der Form gleichförmiger Wiederkehr einfacher Verſe.
Der qualificirte Ausdruck der Sprache liegt nun zwar, wie wir ſogleich
ſehen werden, nicht wie ein gleichgültiger Stoff im Rahmen des Rhythmus,
allein der innerſte Gehalt ſchwebt doch, obgleich mit ihm empfangen und
lebendig vereint, zugleich frei und hoch über dieſem Elemente.

§. 858.

Allerdings gewinnt jedoch der formelle Ausdruck der Stimmung einen
weitern Zuwachs durch ein Verhältniß lebendigen Widerſtreits zwiſchen Rhyth-
mus und Sprache im Versbau, worin beide ihre Selbſtändigkeit, aber eben-
dadurch um ſo inniger ihre Vereinigung betonen. Der Vortrag gleicht theilweiſe
dieſen Kampf aus, belebt aber auch von ſeiner Seite den Unterſchied und bringt
einen weiteren Anklang des eigentlich muſikaliſchen Elements hinzu.

Das rhythmiſche Maaß und die Sprache verbinden ſich und fliehen
ſich in ihrer Verbindung, bekämpfen ſich, um deſto ausdrücklicher verbunden
zu erſcheinen. Es ſind zwei Liebende, die ſich entzweien und verſöhnen und
in dieſem Spiele die Natur eines Bundes offenbaren, der ein freies Opfer

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[1243/0107] raſch bewegen, Angſt und ſtille Beſchauung kann ſäumen, ſchweben, gleiten u. ſ. w. Wenn nun die beſtimmte Qualität der Stimmung in der Muſik erſt durch die Melodie, d. h. die Bewegung in den Verhältniſſen der Tiefe und Höhe, in der Poeſie dieſelbe Qualität, aber als klar vorgeſtellter Inhalt, durch die Sprache hinzukommt, ſo ergibt ſich weiter, daß zwar in beiden Gebieten die Takt-Art gleichförmig durch das ganze Kunſtwerk geht, in der Poeſie aber, was dem Gebiete des unarticulirten Tons angehört, ganz an das Geſetz der gleichförmigen Wiederkehr gefeſſelt bleibt, während die Muſik im Tonleben ſelbſt den individuellen Wechſel innerhalb einer Stimmung, ein Hauptmoment ihrer Qualität, zum Ausdruck bringt. Es treten zwar Wechſel im poetiſchen Rhythmus ein, Verſe von ungleicher Länge und Meſſung folgen ſich in fortlaufender Reihe, oder ein reicherer Unterſchied, buntere Verſchlingung gruppirt ſich zur Strophe, gleiche und ungleiche Strophen abwechſelnd ſtellen eine erweiterte Gruppe dar, aber auch in dieſen kunſt- vollen Gebäuden iſt überall ſymmetriſche Wiederkehr das Geſetz, während die Stimmung, in der Sprache ausgedrückt, wechſelt. Gerade in der Ver- bindung mit der eigentlichen Muſik fällt dieß doppelt auf: in den Strophen wiederholt ſich mit demſelben Rhythmus dieſelbe Melodie, während der Inhalt mit ſeiner Stimmung ſich ändert. Das iſt im Lyriſchen; die Kunſt- werke der objectiven, ein umfaſſenderes Weltbild darſtellenden Zweige aber verzichten, das Epos überall, das Drama wenigſtens in der neueren Zeit, auch auf jenen Grad des Wechſels und bewegen ſich bei den tiefſten Unter- ſchieden des Inhalts in der Form gleichförmiger Wiederkehr einfacher Verſe. Der qualificirte Ausdruck der Sprache liegt nun zwar, wie wir ſogleich ſehen werden, nicht wie ein gleichgültiger Stoff im Rahmen des Rhythmus, allein der innerſte Gehalt ſchwebt doch, obgleich mit ihm empfangen und lebendig vereint, zugleich frei und hoch über dieſem Elemente. §. 858. Allerdings gewinnt jedoch der formelle Ausdruck der Stimmung einen weitern Zuwachs durch ein Verhältniß lebendigen Widerſtreits zwiſchen Rhyth- mus und Sprache im Versbau, worin beide ihre Selbſtändigkeit, aber eben- dadurch um ſo inniger ihre Vereinigung betonen. Der Vortrag gleicht theilweiſe dieſen Kampf aus, belebt aber auch von ſeiner Seite den Unterſchied und bringt einen weiteren Anklang des eigentlich muſikaliſchen Elements hinzu. Das rhythmiſche Maaß und die Sprache verbinden ſich und fliehen ſich in ihrer Verbindung, bekämpfen ſich, um deſto ausdrücklicher verbunden zu erſcheinen. Es ſind zwei Liebende, die ſich entzweien und verſöhnen und in dieſem Spiele die Natur eines Bundes offenbaren, der ein freies Opfer

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/107>, abgerufen am 23.11.2024.