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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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der ächten epiſchen Poeſie die Stetigkeit des Fortſchritts, den ruhigen Ueber-
gang der Linien, das Herauswachſen der Theile auseinander nicht auf,
denn dieſe Bedingungen fordern nicht eine ſtraffe Anknüpfung der Theile
aneinander, ja gerade die Liberalität, womit die Einheit herrſcht, iſt ihnen
günſtig und begründet das Runde, Fließende der Verbindungen. Der ächte
epiſche Dichter ſetzt den Leſer durchaus in die Stimmung, daß er, auch
wenn innegehalten oder der Weg verlaſſen wird, ſich ruhig bewußt bleibt,
es werde weiter gehen und auf die Bahn wieder eingelenkt werden. Bricht
er den Faden ab, ſo zeigt er doch zugleich, daß er das Ende noch in der
Hand hält, ihn wieder anzuknüpfen. So wenn er den Zeitpunct verläßt
und uns zu Früherem wegführt. Im Anfang der Odyſſee fliegen wir mit
dem Blicke der Götter leicht von Odyſſeus und der Inſel der Kalypſo zu
Telemach nach Ithaka, von Argos wieder zu den Freiern; wir ahnen, daß
der Vater und Sohn im Kampfe gegen dieſe zu Einer lebendigen Gruppe
ſich vereinigen werden. Bei den Phäaken erzählt Odyſſeus ſeine Irrfahrten
ſeit der Zerſtörung von Troja, da müſſen wir in der Zeit bedeutend zurück,
aber Alles iſt ebenſoſehr gegenwärtig, denn mit dem Inhalte des erzählten
Vergangenen ſteht der Held, der es erlebt hat, als der Erzähler vor uns,
und wir ſehen voraus, daß ſeine Leiden die Prüfungen ſind, durch die er
zum künftigen Siege geht. Die eigentlichen Hemmungen der Handlung
können keine Störungen ſein, denn ſie zeigen doch nur das gemeſſene Vor-
ſchreiten der thätigen Kraft; mag ſie ſich auch, wie der grollende Achilles,
eine lange Zeit in ſich zurückziehen, ſie wird nur um ſo furchtbarer wieder
hervorbrechen. Für die Epiſode haben wir dreierlei verlangt: eine äußere
Anknüpfung im Sinne der Cauſalität, — dieſe darf loſe ſein, wie z. B.
das Bedürfniß einer ausgezeichneten Wehr, wodurch wir das ausführliche
Gemälde des Schildes des Achilles erhalten, — die Wirkung eines Ruhe-
punctes und die wirkliche Erweiterung des Lebensbildes: beides trifft auf
die ſchönſte Weiſe eben in dieſem Beiſpiele zu. Die Bekenntniſſe einer
ſchönen Seele in W. Meiſter’s Lehrjahren fallen namentlich unter den Be-
griff des Ruhepunctes: im Getümmel und der Zerſtreuung der Welt ein
Bild der Sammlung, der tiefen, ſtillen Einkehr in ſich. Die ſtärkere Be-
ziehung iſt aber natürlich die zweite: Erweiterung des Lebensbildes zu einer
Totalität iſt ſo ſehr der beſtimmende Standpunct des epiſchen Dichters, daß
dagegen der Anſpruch auf ſtreng organiſche Nothwendigkeit für die Handlung
gerne zurücktritt. Im ächten alten Epos hat dieß Motiv der Epiſode die
beſtimmtere Bedeutung, daß das Gedicht die ganze Heldenſage von einem
beſtimmten Punct aus zu umfaſſen ſtrebt, daher da und dort einen Anlaß
benützt, um dieſen und jenen Zweig derſelben einzufügen (vgl. Wackernagel
d. ep. Poeſie. Schweiz. Muſ. f. hiſtor. W. B. 2. S. 82). Auch für die
reich entwickelten Gleichniſſe Homer’s gilt jener Begriff, der Blick wird über

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/144>, abgerufen am 18.02.2025.