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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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alles Umgebende, vorzüglich über die Natur ausgedehnt, und dieß hat die
tiefere Bedeutung, daß ja die Menſchenwelt ſelbſt und die Handlung unter
den Standpunct des Seins, alſo der Natur gerückt iſt, daher durch die
Hinausführung in dieſe nur urſprünglich Verwandtes inniger aufeinander
bezogen wird. Im Ganzen und Großen iſt über die Selbſtändigkeit der
Theile nur zu wiederholen, was ſchon zum vorh. §. geſagt iſt: dem Dichter
gilt Alles ebenſoſehr als ein Glied in der allgemeinen Cauſalität, wie als
freie Erſcheinung des Ganzen, worin die Cauſalität erſchöpft iſt; das Ein-
zelne iſt eine Welt für ſich, ein Himmelskörper, frei ſchwebend, doch aber
mit dem Andern durch den tiefen Zug der Einheit verbunden; „wie iſt es
Ihnen gelungen, den großen, ſo weit auseinandergeworfenen Kreis und
Schauplatz von Perſonen und Begebenheiten wieder ſo eng zuſammenzu-
rücken! Es ſteht da wie ein Planetenſyſtem“ (Schiller an Göthe a. a. O.
Th. 2, S. 80).

2. Es bedarf aber nun allerdings eines beſtimmteren Bandes zwiſchen
der Einheit (der Handlung) und der Vielheit, wie z. B. Leonardo da Vinci
ſich nicht begnügte, die dreizehn Perſonen ſeines Abendmahls durch die
Einheit in der Mannigfaltigkeit des Eindrucks der Worte Chriſti zuſammen-
zuhalten, ſondern außerdem die Jünger zu drei und drei in ungeſuchten
Stellungen gruppirte. Dieß iſt bei einer ſo umfangreichen Compoſition
wie die epiſche doppelt nothwendig; man hat dieſelbe mit der Ausdehnung
auf einer unabſehlichen Fläche im Gegenſatze gegen den Punct oder die Linie
verglichen, worauf das Drama ſich concentrirt (W. v. Humboldt a. a. O.
S. 170); wir müſſen uns erinnern, wie der Dichter die Grenzen der
bildenden Kunſt hinter ſich läßt, alles Sichtbare und Unſichtbare und jenes
nach allen Erſcheinungsſeiten darſtellt; keiner macht daraus ſo ſehr Ernſt,
als der epiſche, und ſo erhält er ein unendliches Sehfeld. Dennoch muß
er in Theilung und Beſchränkung dieſer von Geſtalten wimmelnden Fläche
dem Maler gleichen, der durch einen wirklichen Ausſchnitt des Raumes den
unendlichen Raum mit unendlichen Geſtalten nur durch die in’s Unbeſtimmte
verſchwimmende Behandlung des Hintergrunds ahnen läßt, von dieſem aber
einen (Mittel- und) Vordergrund mit der Kraft der Nähe und Deutlichkeit
unterſcheidet. Das treffendſte Beiſpiel iſt die flüchtige Gemeinde in Hermann
und Dorothea, die mit ihrem Gewimmel und Gedränge auf die franzöſiſche
Revolution, auf Völker- und Menſchenſchickſal mit ihren großen politiſchen
Fragen wie auf eine dunkle, ahnungsvolle Ferne hinausweist, während
Hermann mit ſeinen Eltern und Freunden den Vordergrund bildet (W. v.
Humboldt a. a. O. S. 208). So dehnt ſich in der Odyſſee neben dem
Schickſale Troja’s und Griechenlands die weite Welt mit ihren Wundern,
ſo weit der Horizont der Griechen reichte, das Geſammte des häuslichen
Lebens und der Sitte als Hintergrund aus. Da aber die Poeſie zeitlich

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/145>, abgerufen am 18.02.2025.