hinstellt. Die letztere Form ist zwar subjectiv, aber im Subjectiven noch zu den objectiven Elementen zu zählen. Nun muß aber das in Empfindung versenkte Selbst auch unmittelbar von sich ausgehend ohne diese Gegenüber- stellung seinen Stimmungszustand auszusprechen suchen. Da derselbe jedoch schließlich unsagbar ist, so wird es auch für diese rein subjective Einkehr in sich abermals nach objectiven Elementen greifen; es wird nämlich der leib- liche Reflex des Seelenzustands dienen müssen, um ein andeutendes Bild von diesem zu geben. Man betrachte Mignon's Lied: "Nur wer die Sehn- sucht kennt": das kranke Herz sucht zu sagen, was es leidet; da beruft es sich zuerst auf Andere, die dasselbe leiden, die werden es wissen, sagen läßt es sich nicht; jetzt folgt ein Anschauungsbild der zweiten Gattung der erst von uns aufgeführten Formen: "allein und abgetrennt von aller Freude seh' ich an's Firmament nach jener Seite"; mit wenigen Worten wird hierauf sächlich die Ursache des Leidens angegeben: "ach, der mich liebt und kennt, ist in der Weite"; nun aber soll endlich der innere Zustand direct ausge- sprochen werden, da hat das unsagbare Gefühl nur Ein Mittel, es holt ein Bild aus der tiefen Durchwühlung, welche die Sehnsucht im physischen Leben hervorbringt: "es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide" und hier, wo derjenige, der das Lyrische nicht versteht, meinen wird, das Eigent- liche, die wirkliche Entwicklung des Seelenzustands werde nun folgen, -- verhaucht das Lied, es kann nur zum ersten Satze der Berufung auf Andere zurückkehren und schließen. So findet auch jenes erste Lied Gretchen's kein directes Wort für ihren Zustand, als: "mein Herz ist schwer, mein armer Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir zerstückt"; und das zweite greift ebenfalls in die verstörten Tiefen des leiblichen Lebens, doch nur, um sogleich hinzuzusetzen, daß auch dieß eigentlich unaussprechlich sei: "wer fühlet, wie wühlet der Schmerz mir im Gebein? Was mein armes Herz hier banget, was es zittert, was verlanget, weißt nur Du, nur Du allein", dann findet die innere Qual nur das einfache Wort: Wehe, fühlt aber, daß es nicht genügt, und wiederholt es daher dreimal, auf den Busen deutend: "wie weh, wie weh, wie wehe wird mir im Busen hier"; sie greift wieder zum Objectiven: "ich wein, ich wein', ich weine", und noch einmal zum physiologischen Bilde: "das Herz zerbricht in mir", dann aber, da dieß Alles unzureichend bleibt, zu jenen epischen Elementen der Ver- gegenwärtigung ihrer Leidensgestalt. Clärchen's Sehnsucht langet und banget in schwebender Pein, jauchzt himmelhoch zum Tode betrübt und kann nicht weiter. Das Objective, in jenem engeren und diesem allgemeineren Sinne, genügt also nicht und eben das ist die rechte Lyrik, die dieß nicht Genügen, dieß Wortlose im Worte ausspricht, aber es ist doch der einzige Körper, an welchem der elektrische Funke des Gefühls hinläuft und aufsprüht. So gewiß ist im Lyrischen ein episches Element, daß es sogar Formen gibt,
hinſtellt. Die letztere Form iſt zwar ſubjectiv, aber im Subjectiven noch zu den objectiven Elementen zu zählen. Nun muß aber das in Empfindung verſenkte Selbſt auch unmittelbar von ſich ausgehend ohne dieſe Gegenüber- ſtellung ſeinen Stimmungszuſtand auszuſprechen ſuchen. Da derſelbe jedoch ſchließlich unſagbar iſt, ſo wird es auch für dieſe rein ſubjective Einkehr in ſich abermals nach objectiven Elementen greifen; es wird nämlich der leib- liche Reflex des Seelenzuſtands dienen müſſen, um ein andeutendes Bild von dieſem zu geben. Man betrachte Mignon’s Lied: „Nur wer die Sehn- ſucht kennt“: das kranke Herz ſucht zu ſagen, was es leidet; da beruft es ſich zuerſt auf Andere, die daſſelbe leiden, die werden es wiſſen, ſagen läßt es ſich nicht; jetzt folgt ein Anſchauungsbild der zweiten Gattung der erſt von uns aufgeführten Formen: „allein und abgetrennt von aller Freude ſeh’ ich an’s Firmament nach jener Seite“; mit wenigen Worten wird hierauf ſächlich die Urſache des Leidens angegeben: „ach, der mich liebt und kennt, iſt in der Weite“; nun aber ſoll endlich der innere Zuſtand direct ausge- ſprochen werden, da hat das unſagbare Gefühl nur Ein Mittel, es holt ein Bild aus der tiefen Durchwühlung, welche die Sehnſucht im phyſiſchen Leben hervorbringt: „es ſchwindelt mir, es brennt mein Eingeweide“ und hier, wo derjenige, der das Lyriſche nicht verſteht, meinen wird, das Eigent- liche, die wirkliche Entwicklung des Seelenzuſtands werde nun folgen, — verhaucht das Lied, es kann nur zum erſten Satze der Berufung auf Andere zurückkehren und ſchließen. So findet auch jenes erſte Lied Gretchen’s kein directes Wort für ihren Zuſtand, als: „mein Herz iſt ſchwer, mein armer Kopf iſt mir verrückt, mein armer Sinn iſt mir zerſtückt“; und das zweite greift ebenfalls in die verſtörten Tiefen des leiblichen Lebens, doch nur, um ſogleich hinzuzuſetzen, daß auch dieß eigentlich unausſprechlich ſei: „wer fühlet, wie wühlet der Schmerz mir im Gebein? Was mein armes Herz hier banget, was es zittert, was verlanget, weißt nur Du, nur Du allein“, dann findet die innere Qual nur das einfache Wort: Wehe, fühlt aber, daß es nicht genügt, und wiederholt es daher dreimal, auf den Buſen deutend: „wie weh, wie weh, wie wehe wird mir im Buſen hier“; ſie greift wieder zum Objectiven: „ich wein, ich wein’, ich weine“, und noch einmal zum phyſiologiſchen Bilde: „das Herz zerbricht in mir“, dann aber, da dieß Alles unzureichend bleibt, zu jenen epiſchen Elementen der Ver- gegenwärtigung ihrer Leidensgeſtalt. Clärchen’s Sehnſucht langet und banget in ſchwebender Pein, jauchzt himmelhoch zum Tode betrübt und kann nicht weiter. Das Objective, in jenem engeren und dieſem allgemeineren Sinne, genügt alſo nicht und eben das iſt die rechte Lyrik, die dieß nicht Genügen, dieß Wortloſe im Worte ausſpricht, aber es iſt doch der einzige Körper, an welchem der elektriſche Funke des Gefühls hinläuft und aufſprüht. So gewiß iſt im Lyriſchen ein epiſches Element, daß es ſogar Formen gibt,
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hinſtellt. Die letztere Form iſt zwar ſubjectiv, aber im Subjectiven noch zu
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verſenkte Selbſt auch unmittelbar von ſich ausgehend ohne dieſe Gegenüber-
ſtellung ſeinen Stimmungszuſtand auszuſprechen ſuchen. Da derſelbe jedoch
ſchließlich unſagbar iſt, ſo wird es auch für dieſe rein ſubjective Einkehr in
ſich abermals nach objectiven Elementen greifen; es wird nämlich der leib-
liche Reflex des Seelenzuſtands dienen müſſen, um ein andeutendes Bild
von dieſem zu geben. Man betrachte Mignon’s Lied: „Nur wer die Sehn-
ſucht kennt“: das kranke Herz ſucht zu ſagen, was es leidet; da beruft es
ſich zuerſt auf Andere, die daſſelbe leiden, die werden es wiſſen, ſagen läßt
es ſich nicht; jetzt folgt ein Anſchauungsbild der zweiten Gattung der erſt
von uns aufgeführten Formen: „allein und abgetrennt von aller Freude ſeh’
ich an’s Firmament nach jener Seite“; mit wenigen Worten wird hierauf
ſächlich die Urſache des Leidens angegeben: „ach, der mich liebt und kennt,
iſt in der Weite“; nun aber ſoll endlich der innere Zuſtand direct ausge-
ſprochen werden, da hat das unſagbare Gefühl nur Ein Mittel, es holt
ein Bild aus der tiefen Durchwühlung, welche die Sehnſucht im phyſiſchen
Leben hervorbringt: „es ſchwindelt mir, es brennt mein Eingeweide“ und
hier, wo derjenige, der das Lyriſche nicht verſteht, meinen wird, das Eigent-
liche, die wirkliche Entwicklung des Seelenzuſtands werde nun folgen, —
verhaucht das Lied, es kann nur zum erſten Satze der Berufung auf Andere
zurückkehren und ſchließen. So findet auch jenes erſte Lied Gretchen’s kein
directes Wort für ihren Zuſtand, als: „mein Herz iſt ſchwer, mein armer
Kopf iſt mir verrückt, mein armer Sinn iſt mir zerſtückt“; und das zweite
greift ebenfalls in die verſtörten Tiefen des leiblichen Lebens, doch nur,
um ſogleich hinzuzuſetzen, daß auch dieß eigentlich unausſprechlich ſei: „wer
fühlet, wie wühlet der Schmerz mir im Gebein? Was mein armes Herz
hier banget, was es zittert, was verlanget, weißt nur Du, nur Du allein“,
dann findet die innere Qual nur das einfache Wort: Wehe, fühlt aber,
daß es nicht genügt, und wiederholt es daher dreimal, auf den Buſen
deutend: „wie weh, wie weh, wie wehe wird mir im Buſen hier“; ſie
greift wieder zum Objectiven: „ich wein, ich wein’, ich weine“, und noch
einmal zum phyſiologiſchen Bilde: „das Herz zerbricht in mir“, dann aber,
da dieß Alles unzureichend bleibt, zu jenen epiſchen Elementen der Ver-
gegenwärtigung ihrer Leidensgeſtalt. Clärchen’s Sehnſucht langet und banget
in ſchwebender Pein, jauchzt himmelhoch zum Tode betrübt und kann nicht
weiter. Das Objective, in jenem engeren und dieſem allgemeineren Sinne,
genügt alſo nicht und eben das iſt die rechte Lyrik, die dieß nicht Genügen,
dieß Wortloſe im Worte ausſpricht, aber es iſt doch der einzige Körper,
an welchem der elektriſche Funke des Gefühls hinläuft und aufſprüht. So
gewiß iſt im Lyriſchen ein epiſches Element, daß es ſogar Formen gibt,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/191>, abgerufen am 28.11.2024.
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