Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Wanderung, die er heute schon mehrere Stunden vor
Tag angetreten.

Das erwähnte Geräusch ist inzwischen zu gewal¬
tiger Stärke angewachsen. Es erinnert bald an das
gebellartige Schreien des Schuhus, bald glaubt man
schmetternde Posaunentöne, bald das schrille Kreischen
großer Sägen zu vernehmen -- ein Durcheinander
von Tönen, als brüllte ein Chor von unbekannten,
geisterhaften Ungeheuern.

Der Bursche lächelt und streicht sich den Schnurr¬
bart. Er kennt das. -- Auch das wachsame Thier
wird nicht stutzig, scheint längst Gewohntes zu ver¬
nehmen.

Nahe dem Ziele führt unsern Wanderer sein Weg
an vier grauen, dunklen Steinmalen vorüber. Sie
scheinen gottesdienstliche Bedeutung zu haben. Eines
derselben besteht in einer rohen, mächtigen Granitplatte,
die wagrecht auf vier ebenso rohen steinernen Stützen
ruht. Es wird wohl ein heiliger Tisch, ein Altar sein.
Rechts davon, etwas rückwärts, befindet sich, senkrecht
als hochragender Steinpfeiler aufgestellt, ein zweiter
Granitblock, unbehauen wie jener; auf seinem Gipfel
erscheint ein Gebilde des Meißels, so unbeholfen, als
es herzustellen ist, wo alle Geräthe selbst noch aus
Stein bestehen und nur der härtere in weicherem ar¬
beitet. Es gleicht der Form, die wir auf Sigunens
Arm eingeritzt gesehen haben: zwei aufgebogene Hörner

Wanderung, die er heute ſchon mehrere Stunden vor
Tag angetreten.

Das erwähnte Geräuſch iſt inzwiſchen zu gewal¬
tiger Stärke angewachſen. Es erinnert bald an das
gebellartige Schreien des Schuhus, bald glaubt man
ſchmetternde Poſaunentöne, bald das ſchrille Kreiſchen
großer Sägen zu vernehmen — ein Durcheinander
von Tönen, als brüllte ein Chor von unbekannten,
geiſterhaften Ungeheuern.

Der Burſche lächelt und ſtreicht ſich den Schnurr¬
bart. Er kennt das. — Auch das wachſame Thier
wird nicht ſtutzig, ſcheint längſt Gewohntes zu ver¬
nehmen.

Nahe dem Ziele führt unſern Wanderer ſein Weg
an vier grauen, dunklen Steinmalen vorüber. Sie
ſcheinen gottesdienſtliche Bedeutung zu haben. Eines
derſelben beſteht in einer rohen, mächtigen Granitplatte,
die wagrecht auf vier ebenſo rohen ſteinernen Stützen
ruht. Es wird wohl ein heiliger Tiſch, ein Altar ſein.
Rechts davon, etwas rückwärts, befindet ſich, ſenkrecht
als hochragender Steinpfeiler aufgeſtellt, ein zweiter
Granitblock, unbehauen wie jener; auf ſeinem Gipfel
erſcheint ein Gebilde des Meißels, ſo unbeholfen, als
es herzuſtellen iſt, wo alle Geräthe ſelbſt noch aus
Stein beſtehen und nur der härtere in weicherem ar¬
beitet. Es gleicht der Form, die wir auf Sigunens
Arm eingeritzt geſehen haben: zwei aufgebogene Hörner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0168" n="155"/>
Wanderung, die er heute &#x017F;chon mehrere Stunden vor<lb/>
Tag angetreten.</p><lb/>
        <p>Das erwähnte Geräu&#x017F;ch i&#x017F;t inzwi&#x017F;chen zu gewal¬<lb/>
tiger Stärke angewach&#x017F;en. Es erinnert bald an das<lb/>
gebellartige Schreien des Schuhus, bald glaubt man<lb/>
&#x017F;chmetternde Po&#x017F;aunentöne, bald das &#x017F;chrille Krei&#x017F;chen<lb/>
großer Sägen zu vernehmen &#x2014; ein Durcheinander<lb/>
von Tönen, als brüllte ein Chor von unbekannten,<lb/>
gei&#x017F;terhaften Ungeheuern.</p><lb/>
        <p>Der Bur&#x017F;che lächelt und &#x017F;treicht &#x017F;ich den Schnurr¬<lb/>
bart. Er kennt das. &#x2014; Auch das wach&#x017F;ame Thier<lb/>
wird nicht &#x017F;tutzig, &#x017F;cheint läng&#x017F;t Gewohntes zu ver¬<lb/>
nehmen.</p><lb/>
        <p>Nahe dem Ziele führt un&#x017F;ern Wanderer &#x017F;ein Weg<lb/>
an vier grauen, dunklen Steinmalen vorüber. Sie<lb/>
&#x017F;cheinen gottesdien&#x017F;tliche Bedeutung zu haben. Eines<lb/>
der&#x017F;elben be&#x017F;teht in einer rohen, mächtigen Granitplatte,<lb/>
die wagrecht auf vier eben&#x017F;o rohen &#x017F;teinernen Stützen<lb/>
ruht. Es wird wohl ein heiliger Ti&#x017F;ch, ein Altar &#x017F;ein.<lb/>
Rechts davon, etwas rückwärts, befindet &#x017F;ich, &#x017F;enkrecht<lb/>
als hochragender Steinpfeiler aufge&#x017F;tellt, ein zweiter<lb/>
Granitblock, unbehauen wie jener; auf &#x017F;einem Gipfel<lb/>
er&#x017F;cheint ein Gebilde des Meißels, &#x017F;o unbeholfen, als<lb/>
es herzu&#x017F;tellen i&#x017F;t, wo alle Geräthe &#x017F;elb&#x017F;t noch aus<lb/>
Stein be&#x017F;tehen und nur der härtere in weicherem ar¬<lb/>
beitet. Es gleicht der Form, die wir auf Sigunens<lb/>
Arm eingeritzt ge&#x017F;ehen haben: zwei aufgebogene Hörner<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0168] Wanderung, die er heute ſchon mehrere Stunden vor Tag angetreten. Das erwähnte Geräuſch iſt inzwiſchen zu gewal¬ tiger Stärke angewachſen. Es erinnert bald an das gebellartige Schreien des Schuhus, bald glaubt man ſchmetternde Poſaunentöne, bald das ſchrille Kreiſchen großer Sägen zu vernehmen — ein Durcheinander von Tönen, als brüllte ein Chor von unbekannten, geiſterhaften Ungeheuern. Der Burſche lächelt und ſtreicht ſich den Schnurr¬ bart. Er kennt das. — Auch das wachſame Thier wird nicht ſtutzig, ſcheint längſt Gewohntes zu ver¬ nehmen. Nahe dem Ziele führt unſern Wanderer ſein Weg an vier grauen, dunklen Steinmalen vorüber. Sie ſcheinen gottesdienſtliche Bedeutung zu haben. Eines derſelben beſteht in einer rohen, mächtigen Granitplatte, die wagrecht auf vier ebenſo rohen ſteinernen Stützen ruht. Es wird wohl ein heiliger Tiſch, ein Altar ſein. Rechts davon, etwas rückwärts, befindet ſich, ſenkrecht als hochragender Steinpfeiler aufgeſtellt, ein zweiter Granitblock, unbehauen wie jener; auf ſeinem Gipfel erſcheint ein Gebilde des Meißels, ſo unbeholfen, als es herzuſtellen iſt, wo alle Geräthe ſelbſt noch aus Stein beſtehen und nur der härtere in weicherem ar¬ beitet. Es gleicht der Form, die wir auf Sigunens Arm eingeritzt geſehen haben: zwei aufgebogene Hörner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/168
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/168>, abgerufen am 22.12.2024.