Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Wie er den Wagstein erklommen, wer konnte es
wissen, denn noch kein Mensch hatte es versucht, der
Stein war hochheilig, aber wäre er es auch nicht ge¬
wesen, der hängende, doch steile Felsblock hätte als
unersteiglich erscheinen müssen. Wie dem Frevler die
große, schwere Dogge folgen konnte, das ließ sich nur
durch die bekannte Stemmkraft der Fußmuskeln, die
im starken Ansprung diesem Hundeschlag sogar ein
Klettern möglich macht, zur Noth erklären. Zerfurcht
und bleich von der tiefen Erregung des Augenblicks
und der letzten Erlebnisse erschienen Arthur's Züge noch
bleicher im blassen Lichte des Mondes. Wie ein Geist
stand er da oben, aber schön, hochgewachsen, schlank,
mit großen, weit offenen, leuchtenden Augen. Schauer
fesselte die Herzen, Niemand wagte den Mann anzu¬
tasten, dessen Fuß doch so empörend die geweihte Stelle
entheiligte. Stumm blickte Alles nach ihm hinauf,
tiefe Stille trat ein. Nun hebt er wieder an: "Zer¬
reißt mich, zerhackt mich, siedet oder bratet mich leben¬
dig, aber sprechen muß ich, hören müßt ihr mich,
hören!"

Er stockte, er schien schwer den Anfang zu finden
und fuhr dann fort, zuerst im verlegenen, schüchternen,
naiven Tone eines Neulings im Ordnen der Gedanken
und im öffentlich Reden, doch allmälig erwarmend, die
Worte wie in einem Strom rollend, den Ton zum
Donner anschwellend.

Wie er den Wagſtein erklommen, wer konnte es
wiſſen, denn noch kein Menſch hatte es verſucht, der
Stein war hochheilig, aber wäre er es auch nicht ge¬
weſen, der hängende, doch ſteile Felsblock hätte als
unerſteiglich erſcheinen müſſen. Wie dem Frevler die
große, ſchwere Dogge folgen konnte, das ließ ſich nur
durch die bekannte Stemmkraft der Fußmuskeln, die
im ſtarken Anſprung dieſem Hundeſchlag ſogar ein
Klettern möglich macht, zur Noth erklären. Zerfurcht
und bleich von der tiefen Erregung des Augenblicks
und der letzten Erlebniſſe erſchienen Arthur's Züge noch
bleicher im blaſſen Lichte des Mondes. Wie ein Geiſt
ſtand er da oben, aber ſchön, hochgewachſen, ſchlank,
mit großen, weit offenen, leuchtenden Augen. Schauer
feſſelte die Herzen, Niemand wagte den Mann anzu¬
taſten, deſſen Fuß doch ſo empörend die geweihte Stelle
entheiligte. Stumm blickte Alles nach ihm hinauf,
tiefe Stille trat ein. Nun hebt er wieder an: „Zer¬
reißt mich, zerhackt mich, ſiedet oder bratet mich leben¬
dig, aber ſprechen muß ich, hören müßt ihr mich,
hören!“

Er ſtockte, er ſchien ſchwer den Anfang zu finden
und fuhr dann fort, zuerſt im verlegenen, ſchüchternen,
naiven Tone eines Neulings im Ordnen der Gedanken
und im öffentlich Reden, doch allmälig erwarmend, die
Worte wie in einem Strom rollend, den Ton zum
Donner anſchwellend.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0300" n="287"/>
        <p>Wie er den Wag&#x017F;tein erklommen, wer konnte es<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en, denn noch kein Men&#x017F;ch hatte es ver&#x017F;ucht, der<lb/>
Stein war hochheilig, aber wäre er es auch nicht ge¬<lb/>
we&#x017F;en, der hängende, doch &#x017F;teile Felsblock hätte als<lb/>
uner&#x017F;teiglich er&#x017F;cheinen mü&#x017F;&#x017F;en. Wie dem Frevler die<lb/>
große, &#x017F;chwere Dogge folgen konnte, das ließ &#x017F;ich nur<lb/>
durch die bekannte Stemmkraft der Fußmuskeln, die<lb/>
im &#x017F;tarken An&#x017F;prung die&#x017F;em Hunde&#x017F;chlag &#x017F;ogar ein<lb/>
Klettern möglich macht, zur Noth erklären. Zerfurcht<lb/>
und bleich von der tiefen Erregung des Augenblicks<lb/>
und der letzten Erlebni&#x017F;&#x017F;e er&#x017F;chienen Arthur's Züge noch<lb/>
bleicher im bla&#x017F;&#x017F;en Lichte des Mondes. Wie ein Gei&#x017F;t<lb/>
&#x017F;tand er da oben, aber &#x017F;chön, hochgewach&#x017F;en, &#x017F;chlank,<lb/>
mit großen, weit offenen, leuchtenden Augen. Schauer<lb/>
fe&#x017F;&#x017F;elte die Herzen, Niemand wagte den Mann anzu¬<lb/>
ta&#x017F;ten, de&#x017F;&#x017F;en Fuß doch &#x017F;o empörend die geweihte Stelle<lb/>
entheiligte. Stumm blickte Alles nach ihm hinauf,<lb/>
tiefe Stille trat ein. Nun hebt er wieder an: &#x201E;Zer¬<lb/>
reißt mich, zerhackt mich, &#x017F;iedet oder bratet mich leben¬<lb/>
dig, aber &#x017F;prechen muß ich, hören müßt ihr mich,<lb/>
hören!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er &#x017F;tockte, er &#x017F;chien &#x017F;chwer den Anfang zu finden<lb/>
und fuhr dann fort, zuer&#x017F;t im verlegenen, &#x017F;chüchternen,<lb/>
naiven Tone eines Neulings im Ordnen der Gedanken<lb/>
und im öffentlich Reden, doch allmälig erwarmend, die<lb/>
Worte wie in einem Strom rollend, den Ton zum<lb/>
Donner an&#x017F;chwellend.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0300] Wie er den Wagſtein erklommen, wer konnte es wiſſen, denn noch kein Menſch hatte es verſucht, der Stein war hochheilig, aber wäre er es auch nicht ge¬ weſen, der hängende, doch ſteile Felsblock hätte als unerſteiglich erſcheinen müſſen. Wie dem Frevler die große, ſchwere Dogge folgen konnte, das ließ ſich nur durch die bekannte Stemmkraft der Fußmuskeln, die im ſtarken Anſprung dieſem Hundeſchlag ſogar ein Klettern möglich macht, zur Noth erklären. Zerfurcht und bleich von der tiefen Erregung des Augenblicks und der letzten Erlebniſſe erſchienen Arthur's Züge noch bleicher im blaſſen Lichte des Mondes. Wie ein Geiſt ſtand er da oben, aber ſchön, hochgewachſen, ſchlank, mit großen, weit offenen, leuchtenden Augen. Schauer feſſelte die Herzen, Niemand wagte den Mann anzu¬ taſten, deſſen Fuß doch ſo empörend die geweihte Stelle entheiligte. Stumm blickte Alles nach ihm hinauf, tiefe Stille trat ein. Nun hebt er wieder an: „Zer¬ reißt mich, zerhackt mich, ſiedet oder bratet mich leben¬ dig, aber ſprechen muß ich, hören müßt ihr mich, hören!“ Er ſtockte, er ſchien ſchwer den Anfang zu finden und fuhr dann fort, zuerſt im verlegenen, ſchüchternen, naiven Tone eines Neulings im Ordnen der Gedanken und im öffentlich Reden, doch allmälig erwarmend, die Worte wie in einem Strom rollend, den Ton zum Donner anſchwellend.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/300
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/300>, abgerufen am 23.12.2024.