Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

bezwungen wird, da ist er. Er bezwingt auch die
Zeit. Morgen und Abend, Tag und Nacht, Mond
und Jahr sind gleich vor ihm. Da gibt es kein Vor¬
her und Nachher. Er ist das ewig Bewegende in
aller Bewegung. Wer ihn liebt, schüttelt es ab, das
Albgewicht der schrecklichen, gähnenden Zeit und tauchet
auf in das Urlicht, das da zeitlos ist, wie euch der
weise Barde gesagt hat. Wir sind Wellen im unend¬
lichen Zeitmeer, wir sind Nichts, wo wir uns nicht
heben in den Strahl der Ewigkeit. O süßes Zittern,
wenn berührt von der Weltensonne unser Scheitel blitzt!
Wenn sie unser kaltes Wogenherz durchwärmt, unser
Eis schmelzt! Es schmilzt, wenn wir gut sind! Es
schmilzt, wenn wir lassen vom Dumpfen, vom Arm¬
seligen, von all' dem, um dessen willen es nicht der
Mühe werth ist zu leben. In was lebt ihr? Im
Schund um Essen und Trinken und schöne Kleider,
um Rinder und Ziegen und Häute, im Zank um nichts!
Wo schwebt ihr? wo schwimmt ihr? Im blitzenden
Weltmeer des Lichts? Ihr schwebt nicht, ihr klebt, im
Sumpfe klebt ihr, im Schlamm zwischen Binsen und
Röhricht -- schleimige Schneckenseelen seid ihr! Eckeln
sollte es euch an euch selbst!" --

Jetzt begann und wuchs ein Murren unter den
Zuhörern, aber nur heftiger schalt er fort:

"Der milde Barde hat's euch sanft und leis ge¬
sagt, laut und scharf will ich es euch sagen! Da habt

bezwungen wird, da iſt er. Er bezwingt auch die
Zeit. Morgen und Abend, Tag und Nacht, Mond
und Jahr ſind gleich vor ihm. Da gibt es kein Vor¬
her und Nachher. Er iſt das ewig Bewegende in
aller Bewegung. Wer ihn liebt, ſchüttelt es ab, das
Albgewicht der ſchrecklichen, gähnenden Zeit und tauchet
auf in das Urlicht, das da zeitlos iſt, wie euch der
weiſe Barde geſagt hat. Wir ſind Wellen im unend¬
lichen Zeitmeer, wir ſind Nichts, wo wir uns nicht
heben in den Strahl der Ewigkeit. O ſüßes Zittern,
wenn berührt von der Weltenſonne unſer Scheitel blitzt!
Wenn ſie unſer kaltes Wogenherz durchwärmt, unſer
Eis ſchmelzt! Es ſchmilzt, wenn wir gut ſind! Es
ſchmilzt, wenn wir laſſen vom Dumpfen, vom Arm¬
ſeligen, von all' dem, um deſſen willen es nicht der
Mühe werth iſt zu leben. In was lebt ihr? Im
Schund um Eſſen und Trinken und ſchöne Kleider,
um Rinder und Ziegen und Häute, im Zank um nichts!
Wo ſchwebt ihr? wo ſchwimmt ihr? Im blitzenden
Weltmeer des Lichts? Ihr ſchwebt nicht, ihr klebt, im
Sumpfe klebt ihr, im Schlamm zwiſchen Binſen und
Röhricht — ſchleimige Schneckenſeelen ſeid ihr! Eckeln
ſollte es euch an euch ſelbſt!“ —

Jetzt begann und wuchs ein Murren unter den
Zuhörern, aber nur heftiger ſchalt er fort:

„Der milde Barde hat's euch ſanft und leis ge¬
ſagt, laut und ſcharf will ich es euch ſagen! Da habt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0304" n="291"/>
bezwungen wird, da i&#x017F;t er. Er bezwingt auch die<lb/>
Zeit. Morgen und Abend, Tag und Nacht, Mond<lb/>
und Jahr &#x017F;ind gleich vor ihm. Da gibt es kein Vor¬<lb/>
her und Nachher. Er i&#x017F;t das ewig Bewegende in<lb/>
aller Bewegung. Wer ihn liebt, &#x017F;chüttelt es ab, das<lb/>
Albgewicht der &#x017F;chrecklichen, gähnenden Zeit und tauchet<lb/>
auf in das Urlicht, das da zeitlos i&#x017F;t, wie euch der<lb/>
wei&#x017F;e Barde ge&#x017F;agt hat. Wir &#x017F;ind Wellen im unend¬<lb/>
lichen Zeitmeer, wir &#x017F;ind Nichts, wo wir uns nicht<lb/>
heben in den Strahl der Ewigkeit. O &#x017F;üßes Zittern,<lb/>
wenn berührt von der Welten&#x017F;onne un&#x017F;er Scheitel blitzt!<lb/>
Wenn &#x017F;ie un&#x017F;er kaltes Wogenherz durchwärmt, un&#x017F;er<lb/>
Eis &#x017F;chmelzt! Es &#x017F;chmilzt, wenn wir gut &#x017F;ind! Es<lb/>
&#x017F;chmilzt, wenn wir la&#x017F;&#x017F;en vom Dumpfen, vom Arm¬<lb/>
&#x017F;eligen, von all' dem, um de&#x017F;&#x017F;en willen es nicht der<lb/>
Mühe werth i&#x017F;t zu leben. In was lebt ihr? Im<lb/>
Schund um E&#x017F;&#x017F;en und Trinken und &#x017F;chöne Kleider,<lb/>
um Rinder und Ziegen und Häute, im Zank um nichts!<lb/>
Wo &#x017F;chwebt ihr? wo &#x017F;chwimmt ihr? Im blitzenden<lb/>
Weltmeer des Lichts? Ihr &#x017F;chwebt nicht, ihr klebt, im<lb/>
Sumpfe klebt ihr, im Schlamm zwi&#x017F;chen Bin&#x017F;en und<lb/>
Röhricht &#x2014; &#x017F;chleimige Schnecken&#x017F;eelen &#x017F;eid ihr! Eckeln<lb/>
&#x017F;ollte es euch an euch &#x017F;elb&#x017F;t!&#x201C; &#x2014;</p><lb/>
        <p>Jetzt begann und wuchs ein Murren unter den<lb/>
Zuhörern, aber nur heftiger &#x017F;chalt er fort:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Der milde Barde hat's euch &#x017F;anft und leis ge¬<lb/>
&#x017F;agt, laut und &#x017F;charf will ich es euch &#x017F;agen! Da habt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[291/0304] bezwungen wird, da iſt er. Er bezwingt auch die Zeit. Morgen und Abend, Tag und Nacht, Mond und Jahr ſind gleich vor ihm. Da gibt es kein Vor¬ her und Nachher. Er iſt das ewig Bewegende in aller Bewegung. Wer ihn liebt, ſchüttelt es ab, das Albgewicht der ſchrecklichen, gähnenden Zeit und tauchet auf in das Urlicht, das da zeitlos iſt, wie euch der weiſe Barde geſagt hat. Wir ſind Wellen im unend¬ lichen Zeitmeer, wir ſind Nichts, wo wir uns nicht heben in den Strahl der Ewigkeit. O ſüßes Zittern, wenn berührt von der Weltenſonne unſer Scheitel blitzt! Wenn ſie unſer kaltes Wogenherz durchwärmt, unſer Eis ſchmelzt! Es ſchmilzt, wenn wir gut ſind! Es ſchmilzt, wenn wir laſſen vom Dumpfen, vom Arm¬ ſeligen, von all' dem, um deſſen willen es nicht der Mühe werth iſt zu leben. In was lebt ihr? Im Schund um Eſſen und Trinken und ſchöne Kleider, um Rinder und Ziegen und Häute, im Zank um nichts! Wo ſchwebt ihr? wo ſchwimmt ihr? Im blitzenden Weltmeer des Lichts? Ihr ſchwebt nicht, ihr klebt, im Sumpfe klebt ihr, im Schlamm zwiſchen Binſen und Röhricht — ſchleimige Schneckenſeelen ſeid ihr! Eckeln ſollte es euch an euch ſelbſt!“ — Jetzt begann und wuchs ein Murren unter den Zuhörern, aber nur heftiger ſchalt er fort: „Der milde Barde hat's euch ſanft und leis ge¬ ſagt, laut und ſcharf will ich es euch ſagen! Da habt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/304
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/304>, abgerufen am 23.12.2024.