Greisin hatten heut etwas Entwölktes, sanft Heiteres, sie wendete sich mit weicher Beugung öfters zu den Thierchen, wenn sie nicht weiter wollten oder Sprünge machten, redete sie mit Kosenamen an und streichelte sie, namentlich das Böckchen, das, anfangs ganz munter, bald in eine Trägheit verfiel, ja so matt wurde, daß es sich zu Boden legen wollte. Die Alte konnte zwar nichts von klassischer Idylle wissen, wir aber, die wir davon wissen, können anders nicht sagen, als: sie fühlte und trug sich, ihr Alter schön vergessend, hold wie eine arkadische Schäferin. Ihr folgte, eine blutrothe Schürze angethan, der heilige Metzger: der Schlächter der Opferthiere. Auf der Schulter hielt er die Stein¬ axt, im Gürtel steckte ein scharfer, schmaler Meißel mit Hirschhorngriff. Die Klinge bestand aus einem Stein von ungewöhnlicher Farbe: grün mit graulichen Wolken durchzogen. Man fand diesen Stein nirgends im Lande, eine dunkle Sage gieng um, solche Opfermesser seien kein Naturerzeugniß, sondern eine Wundergabe der Götter selbst; er hieß daher heiliger Grünstein, während unsere profane Sprache ihm den Namen Nephrit gegeben hat. Der Gemeinde voraus, die die߬ mal, Männer und Frauen, Alt und Jung, am Zuge theilnahm, giengen heute die neu betuchten und durch Ritzung besiegelten Knaben und Mädchen, zu vier und vier marschierend wie die Gemeinde, und fleißig, ob¬ wohl meist unnöthig ihre frischen Tüchlein in Gebrauch
Vischer, Auch Einer. I. 21
Greiſin hatten heut etwas Entwölktes, ſanft Heiteres, ſie wendete ſich mit weicher Beugung öfters zu den Thierchen, wenn ſie nicht weiter wollten oder Sprünge machten, redete ſie mit Koſenamen an und ſtreichelte ſie, namentlich das Böckchen, das, anfangs ganz munter, bald in eine Trägheit verfiel, ja ſo matt wurde, daß es ſich zu Boden legen wollte. Die Alte konnte zwar nichts von klaſſiſcher Idylle wiſſen, wir aber, die wir davon wiſſen, können anders nicht ſagen, als: ſie fühlte und trug ſich, ihr Alter ſchön vergeſſend, hold wie eine arkadiſche Schäferin. Ihr folgte, eine blutrothe Schürze angethan, der heilige Metzger: der Schlächter der Opferthiere. Auf der Schulter hielt er die Stein¬ axt, im Gürtel ſteckte ein ſcharfer, ſchmaler Meißel mit Hirſchhorngriff. Die Klinge beſtand aus einem Stein von ungewöhnlicher Farbe: grün mit graulichen Wolken durchzogen. Man fand dieſen Stein nirgends im Lande, eine dunkle Sage gieng um, ſolche Opfermeſſer ſeien kein Naturerzeugniß, ſondern eine Wundergabe der Götter ſelbſt; er hieß daher heiliger Grünſtein, während unſere profane Sprache ihm den Namen Nephrit gegeben hat. Der Gemeinde voraus, die die߬ mal, Männer und Frauen, Alt und Jung, am Zuge theilnahm, giengen heute die neu betuchten und durch Ritzung beſiegelten Knaben und Mädchen, zu vier und vier marſchierend wie die Gemeinde, und fleißig, ob¬ wohl meiſt unnöthig ihre friſchen Tüchlein in Gebrauch
Viſcher, Auch Einer. I. 21
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Greiſin hatten heut etwas Entwölktes, ſanft Heiteres,
ſie wendete ſich mit weicher Beugung öfters zu den
Thierchen, wenn ſie nicht weiter wollten oder Sprünge
machten, redete ſie mit Koſenamen an und ſtreichelte
ſie, namentlich das Böckchen, das, anfangs ganz munter,
bald in eine Trägheit verfiel, ja ſo matt wurde, daß
es ſich zu Boden legen wollte. Die Alte konnte zwar
nichts von klaſſiſcher Idylle wiſſen, wir aber, die wir
davon wiſſen, können anders nicht ſagen, als: ſie fühlte
und trug ſich, ihr Alter ſchön vergeſſend, hold wie
eine arkadiſche Schäferin. Ihr folgte, eine blutrothe
Schürze angethan, der heilige Metzger: der Schlächter
der Opferthiere. Auf der Schulter hielt er die Stein¬
axt, im Gürtel ſteckte ein ſcharfer, ſchmaler Meißel mit
Hirſchhorngriff. Die Klinge beſtand aus einem Stein
von ungewöhnlicher Farbe: grün mit graulichen Wolken
durchzogen. Man fand dieſen Stein nirgends im
Lande, eine dunkle Sage gieng um, ſolche Opfermeſſer
ſeien kein Naturerzeugniß, ſondern eine Wundergabe
der Götter ſelbſt; er hieß daher heiliger Grünſtein,
während unſere profane Sprache ihm den Namen
Nephrit gegeben hat. Der Gemeinde voraus, die die߬
mal, Männer und Frauen, Alt und Jung, am Zuge
theilnahm, giengen heute die neu betuchten und durch
Ritzung beſiegelten Knaben und Mädchen, zu vier und
vier marſchierend wie die Gemeinde, und fleißig, ob¬
wohl meiſt unnöthig ihre friſchen Tüchlein in Gebrauch
Viſcher, Auch Einer. I. 21
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/334>, abgerufen am 23.12.2024.
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