des Frevlers! Der gewaltige, dunkle Grippo hat zu lang ein Menschenopfer entbehrt. Darum hat er unser Böcklein verschmäht. Wunderbares Wehen und Rauschen habe ich verspürt, Geisterstimmen habe ich vernommen heut Abend im heiligen Innersten des Haines. ,Geuß mich mit Sünderblut!' rief hohler Tiefton aus den Aesten des Räthselgebildes. ,Versöhne ihn!' lispelte es aus zitterndem Birkenlaub. Fromme Mitheiden! ein Unheiliger, ein Götterfeind, ein Lästerer weilt in unserer Mitte. Ihr kennt mich, ihr wißt, ich bin eigentlich ein Mann der Billigkeit. Ich lasse der denkenden Vernunft einen Spielraum. Zweifel ist bis an ge¬ wisse Grenzen erlaubt. Wir haben Köpfe in der Ge¬ meinde, welche an den heiligen Zahlen fünfunddreißig und neunundvierzig zu rütteln wagen, betreffend die Feen der Göttin Selinur und die Zwerggeister des Grippo. Ich habe diese Grübler nie verfolgt, nur sanft gewarnt. Ich selbst habe mich durch Zweifel zum Glauben durchgekämpft. Aber zu viel ist zu viel. Es darf nicht an den Kern, an die Wurzel, nicht an die Hauptkapitel gehen. Dieser Fremdling hat aber unsere allerheiligste Religion in ihren Grund¬ wahrheiten verspottet, schon ehe er in die wildfrechen öffentlichen Reden ausbrach. Er hat unsere ehrwür¬ dige, hochwichtige Betuchungs- und Ritzungsfeier belacht; er hat giftscharfe Worte fallen lassen, dahin zielend, daß unser Glaube keine Kraft mehr habe, die Völker
des Frevlers! Der gewaltige, dunkle Grippo hat zu lang ein Menſchenopfer entbehrt. Darum hat er unſer Böcklein verſchmäht. Wunderbares Wehen und Rauſchen habe ich verſpürt, Geiſterſtimmen habe ich vernommen heut Abend im heiligen Innerſten des Haines. ‚Geuß mich mit Sünderblut!‘ rief hohler Tiefton aus den Aeſten des Räthſelgebildes. ‚Verſöhne ihn!‘ liſpelte es aus zitterndem Birkenlaub. Fromme Mitheiden! ein Unheiliger, ein Götterfeind, ein Läſterer weilt in unſerer Mitte. Ihr kennt mich, ihr wißt, ich bin eigentlich ein Mann der Billigkeit. Ich laſſe der denkenden Vernunft einen Spielraum. Zweifel iſt bis an ge¬ wiſſe Grenzen erlaubt. Wir haben Köpfe in der Ge¬ meinde, welche an den heiligen Zahlen fünfunddreißig und neunundvierzig zu rütteln wagen, betreffend die Feen der Göttin Selinur und die Zwerggeiſter des Grippo. Ich habe dieſe Grübler nie verfolgt, nur ſanft gewarnt. Ich ſelbſt habe mich durch Zweifel zum Glauben durchgekämpft. Aber zu viel iſt zu viel. Es darf nicht an den Kern, an die Wurzel, nicht an die Hauptkapitel gehen. Dieſer Fremdling hat aber unſere allerheiligſte Religion in ihren Grund¬ wahrheiten verſpottet, ſchon ehe er in die wildfrechen öffentlichen Reden ausbrach. Er hat unſere ehrwür¬ dige, hochwichtige Betuchungs- und Ritzungsfeier belacht; er hat giftſcharfe Worte fallen laſſen, dahin zielend, daß unſer Glaube keine Kraft mehr habe, die Völker
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des Frevlers! Der gewaltige, dunkle Grippo hat zu
lang ein Menſchenopfer entbehrt. Darum hat er unſer
Böcklein verſchmäht. Wunderbares Wehen und Rauſchen
habe ich verſpürt, Geiſterſtimmen habe ich vernommen
heut Abend im heiligen Innerſten des Haines. ‚Geuß
mich mit Sünderblut!‘ rief hohler Tiefton aus den
Aeſten des Räthſelgebildes. ‚Verſöhne ihn!‘ liſpelte es
aus zitterndem Birkenlaub. Fromme Mitheiden! ein
Unheiliger, ein Götterfeind, ein Läſterer weilt in unſerer
Mitte. Ihr kennt mich, ihr wißt, ich bin eigentlich
ein Mann der Billigkeit. Ich laſſe der denkenden
Vernunft einen Spielraum. Zweifel iſt bis an ge¬
wiſſe Grenzen erlaubt. Wir haben Köpfe in der Ge¬
meinde, welche an den heiligen Zahlen fünfunddreißig
und neunundvierzig zu rütteln wagen, betreffend die
Feen der Göttin Selinur und die Zwerggeiſter des
Grippo. Ich habe dieſe Grübler nie verfolgt, nur
ſanft gewarnt. Ich ſelbſt habe mich durch Zweifel
zum Glauben durchgekämpft. Aber zu viel iſt zu
viel. Es darf nicht an den Kern, an die Wurzel,
nicht an die Hauptkapitel gehen. Dieſer Fremdling
hat aber unſere allerheiligſte Religion in ihren Grund¬
wahrheiten verſpottet, ſchon ehe er in die wildfrechen
öffentlichen Reden ausbrach. Er hat unſere ehrwür¬
dige, hochwichtige Betuchungs- und Ritzungsfeier belacht;
er hat giftſcharfe Worte fallen laſſen, dahin zielend,
daß unſer Glaube keine Kraft mehr habe, die Völker
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/398>, abgerufen am 23.12.2024.
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