Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

für Begriffe von Freiheit," rief er aus, "da meinen sie,
frei zu sein, weil sie die Beine nicht rühren!" So
nahe es nun lag, den Widerspruch, in welchen der
leidenschaftliche Freund freier Bewegung sich dießmal
begeben, aus einer Bekanntschaft mit der Familie zu
erklären, der Zustand meines Gewissens raunte statt
dessen mir ein, er werde sich zur Fahrt entschlossen
haben, um mit gutem Schick an mir vorüberzukommen;
eine Vorstellung, die eben nicht geeignet war, meine
Laune zu verbessern. Daß mein Reiseziel der Gott¬
hard sei, hatte ich A. E. gesagt; daß auch er dahin
strebe, war keine Frage; es schien mir so die Hoff¬
nung genommen, noch einmal mit ihm zusammenzu¬
treffen und eine Aussöhnung zu suchen. Da ich nun
doch einmal zum Nachzügler geworden, blieb ich um so
mehr bei meinem Vorhaben, die kurze Seitenwendung
von der Hauptstraße ab nach Bürglen zu nehmen.

Der Kellner im Gasthof zum "Wilhelm Tell"
sagte mir, wie ich eintrat, ich könne sogleich am Mit¬
tagstisch Platz nehmen, das Essen habe begonnen, er
werde mir nachserviren. Ich lege ab, lasse meinen
Anzug säubern, trete ein und mein erster Blick begegnet
dem verlorenen Reisegenossen. Er saß mitten unter
der englischen Familie, dem Alten gegenüber, zu seiner
Rechten die junge Frau oder vielmehr sichtlich Wittwe,
zu seiner Linken die Gouvernante. Die Tafel war außer¬
dem von Fremden so besetzt, daß für mich nur Ein

für Begriffe von Freiheit,“ rief er aus, „da meinen ſie,
frei zu ſein, weil ſie die Beine nicht rühren!“ So
nahe es nun lag, den Widerſpruch, in welchen der
leidenſchaftliche Freund freier Bewegung ſich dießmal
begeben, aus einer Bekanntſchaft mit der Familie zu
erklären, der Zuſtand meines Gewiſſens raunte ſtatt
deſſen mir ein, er werde ſich zur Fahrt entſchloſſen
haben, um mit gutem Schick an mir vorüberzukommen;
eine Vorſtellung, die eben nicht geeignet war, meine
Laune zu verbeſſern. Daß mein Reiſeziel der Gott¬
hard ſei, hatte ich A. E. geſagt; daß auch er dahin
ſtrebe, war keine Frage; es ſchien mir ſo die Hoff¬
nung genommen, noch einmal mit ihm zuſammenzu¬
treffen und eine Ausſöhnung zu ſuchen. Da ich nun
doch einmal zum Nachzügler geworden, blieb ich um ſo
mehr bei meinem Vorhaben, die kurze Seitenwendung
von der Hauptſtraße ab nach Bürglen zu nehmen.

Der Kellner im Gaſthof zum „Wilhelm Tell“
ſagte mir, wie ich eintrat, ich könne ſogleich am Mit¬
tagstiſch Platz nehmen, das Eſſen habe begonnen, er
werde mir nachſerviren. Ich lege ab, laſſe meinen
Anzug ſäubern, trete ein und mein erſter Blick begegnet
dem verlorenen Reiſegenoſſen. Er ſaß mitten unter
der engliſchen Familie, dem Alten gegenüber, zu ſeiner
Rechten die junge Frau oder vielmehr ſichtlich Wittwe,
zu ſeiner Linken die Gouvernante. Die Tafel war außer¬
dem von Fremden ſo beſetzt, daß für mich nur Ein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0072" n="59"/>
für Begriffe von Freiheit,&#x201C; rief er aus, &#x201E;da meinen &#x017F;ie,<lb/>
frei zu &#x017F;ein, weil &#x017F;ie die Beine nicht rühren!&#x201C; So<lb/>
nahe es nun lag, den Wider&#x017F;pruch, in welchen der<lb/>
leiden&#x017F;chaftliche Freund freier Bewegung &#x017F;ich dießmal<lb/>
begeben, aus einer Bekannt&#x017F;chaft mit der Familie zu<lb/>
erklären, der Zu&#x017F;tand meines Gewi&#x017F;&#x017F;ens raunte &#x017F;tatt<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en mir ein, er werde &#x017F;ich zur Fahrt ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
haben, um mit gutem Schick an mir vorüberzukommen;<lb/>
eine Vor&#x017F;tellung, die eben nicht geeignet war, meine<lb/>
Laune zu verbe&#x017F;&#x017F;ern. Daß mein Rei&#x017F;eziel der Gott¬<lb/>
hard &#x017F;ei, hatte ich A. E. ge&#x017F;agt; daß auch er dahin<lb/>
&#x017F;trebe, war keine Frage; es &#x017F;chien mir &#x017F;o die Hoff¬<lb/>
nung genommen, noch einmal mit ihm zu&#x017F;ammenzu¬<lb/>
treffen und eine Aus&#x017F;öhnung zu &#x017F;uchen. Da ich nun<lb/>
doch einmal zum Nachzügler geworden, blieb ich um &#x017F;o<lb/>
mehr bei meinem Vorhaben, die kurze Seitenwendung<lb/>
von der Haupt&#x017F;traße ab nach Bürglen zu nehmen.</p><lb/>
        <p>Der Kellner im Ga&#x017F;thof zum &#x201E;Wilhelm Tell&#x201C;<lb/>
&#x017F;agte mir, wie ich eintrat, ich könne &#x017F;ogleich am Mit¬<lb/>
tagsti&#x017F;ch Platz nehmen, das E&#x017F;&#x017F;en habe begonnen, er<lb/>
werde mir nach&#x017F;erviren. Ich lege ab, la&#x017F;&#x017F;e meinen<lb/>
Anzug &#x017F;äubern, trete ein und mein er&#x017F;ter Blick begegnet<lb/>
dem verlorenen Rei&#x017F;egeno&#x017F;&#x017F;en. Er &#x017F;aß mitten unter<lb/>
der engli&#x017F;chen Familie, dem Alten gegenüber, zu &#x017F;einer<lb/>
Rechten die junge Frau oder vielmehr &#x017F;ichtlich Wittwe,<lb/>
zu &#x017F;einer Linken die Gouvernante. Die Tafel war außer¬<lb/>
dem von Fremden &#x017F;o be&#x017F;etzt, daß für mich nur Ein<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0072] für Begriffe von Freiheit,“ rief er aus, „da meinen ſie, frei zu ſein, weil ſie die Beine nicht rühren!“ So nahe es nun lag, den Widerſpruch, in welchen der leidenſchaftliche Freund freier Bewegung ſich dießmal begeben, aus einer Bekanntſchaft mit der Familie zu erklären, der Zuſtand meines Gewiſſens raunte ſtatt deſſen mir ein, er werde ſich zur Fahrt entſchloſſen haben, um mit gutem Schick an mir vorüberzukommen; eine Vorſtellung, die eben nicht geeignet war, meine Laune zu verbeſſern. Daß mein Reiſeziel der Gott¬ hard ſei, hatte ich A. E. geſagt; daß auch er dahin ſtrebe, war keine Frage; es ſchien mir ſo die Hoff¬ nung genommen, noch einmal mit ihm zuſammenzu¬ treffen und eine Ausſöhnung zu ſuchen. Da ich nun doch einmal zum Nachzügler geworden, blieb ich um ſo mehr bei meinem Vorhaben, die kurze Seitenwendung von der Hauptſtraße ab nach Bürglen zu nehmen. Der Kellner im Gaſthof zum „Wilhelm Tell“ ſagte mir, wie ich eintrat, ich könne ſogleich am Mit¬ tagstiſch Platz nehmen, das Eſſen habe begonnen, er werde mir nachſerviren. Ich lege ab, laſſe meinen Anzug ſäubern, trete ein und mein erſter Blick begegnet dem verlorenen Reiſegenoſſen. Er ſaß mitten unter der engliſchen Familie, dem Alten gegenüber, zu ſeiner Rechten die junge Frau oder vielmehr ſichtlich Wittwe, zu ſeiner Linken die Gouvernante. Die Tafel war außer¬ dem von Fremden ſo beſetzt, daß für mich nur Ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/72
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/72>, abgerufen am 22.12.2024.