Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

mich bückte, die sieben Sachen aufzulesen, erschrack ich
über mich selbst in der Tiefe meiner Seele: "Um
Gottes willen," rief es in mir, "der Mensch hat dich
angesteckt, du wirst verrückt!" Es zogen mir Wolken,
Wallungen über das Gehirn her, und als ich in die
Wirbel sah, in denen das Wasser zwischen den Granit¬
blöcken sich dreht, um dann schäumend vor- und hinab¬
zustürzen, so wurde mir, als wirble und schäume es mir
gerade so in meinem armen Kopfe. Ja, ja! es ist nicht
anders, der Mensch hat dir's angethan! Aber während
ich innerlich so sprach: der Mensch! stellte sich frei¬
willig die Vernunft ein: der Mensch! O ja, ein
Mensch! ein menschlicher Mensch! Die Stimmung
kam wieder, in welcher ich Bürglen zugewandert war:
Reue über mein hartes Anlassen dort auf der Axen¬
straße, Rührung, Mitleid, Liebe, und hinter und über
der Liebe Achtung, und je mehr Achtung, um so mehr
wieder Mitleid; kreuzweise durchbohrt von all' den
widersprechenden Gefühlen, aufgeregt im Grunde der
Seele und niedergeschlagen zugleich langte ich in Am¬
steg an und nur die Ermüdung brachte mir den er¬
wünschten Schlaf, tief und traumlos, wie er nach
tüchtigem Marsch den Wanderer erquickt.

Ich stand früh auf und gieng rüstig meiner Straße.
Mein A. E. schien dießmal wenigstens keine Wetter-
Kassandra gewesen zu sein. Die Luft war hell; der
Bristenstock stieg rein gezeichnet in die Höhe und gönnte

mich bückte, die ſieben Sachen aufzuleſen, erſchrack ich
über mich ſelbſt in der Tiefe meiner Seele: „Um
Gottes willen,“ rief es in mir, „der Menſch hat dich
angeſteckt, du wirſt verrückt!“ Es zogen mir Wolken,
Wallungen über das Gehirn her, und als ich in die
Wirbel ſah, in denen das Waſſer zwiſchen den Granit¬
blöcken ſich dreht, um dann ſchäumend vor- und hinab¬
zuſtürzen, ſo wurde mir, als wirble und ſchäume es mir
gerade ſo in meinem armen Kopfe. Ja, ja! es iſt nicht
anders, der Menſch hat dir's angethan! Aber während
ich innerlich ſo ſprach: der Menſch! ſtellte ſich frei¬
willig die Vernunft ein: der Menſch! O ja, ein
Menſch! ein menſchlicher Menſch! Die Stimmung
kam wieder, in welcher ich Bürglen zugewandert war:
Reue über mein hartes Anlaſſen dort auf der Axen¬
ſtraße, Rührung, Mitleid, Liebe, und hinter und über
der Liebe Achtung, und je mehr Achtung, um ſo mehr
wieder Mitleid; kreuzweiſe durchbohrt von all' den
widerſprechenden Gefühlen, aufgeregt im Grunde der
Seele und niedergeſchlagen zugleich langte ich in Am¬
ſteg an und nur die Ermüdung brachte mir den er¬
wünſchten Schlaf, tief und traumlos, wie er nach
tüchtigem Marſch den Wanderer erquickt.

Ich ſtand früh auf und gieng rüſtig meiner Straße.
Mein A. E. ſchien dießmal wenigſtens keine Wetter-
Kaſſandra geweſen zu ſein. Die Luft war hell; der
Briſtenſtock ſtieg rein gezeichnet in die Höhe und gönnte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0081" n="68"/>
mich bückte, die &#x017F;ieben Sachen aufzule&#x017F;en, er&#x017F;chrack ich<lb/>
über mich &#x017F;elb&#x017F;t in der Tiefe meiner Seele: &#x201E;Um<lb/>
Gottes willen,&#x201C; rief es in mir, &#x201E;der Men&#x017F;ch hat dich<lb/>
ange&#x017F;teckt, du wir&#x017F;t verrückt!&#x201C; Es zogen mir Wolken,<lb/>
Wallungen über das Gehirn her, und als ich in die<lb/>
Wirbel &#x017F;ah, in denen das Wa&#x017F;&#x017F;er zwi&#x017F;chen den Granit¬<lb/>
blöcken &#x017F;ich dreht, um dann &#x017F;chäumend vor- und hinab¬<lb/>
zu&#x017F;türzen, &#x017F;o wurde mir, als wirble und &#x017F;chäume es mir<lb/>
gerade &#x017F;o in meinem armen Kopfe. Ja, ja! es i&#x017F;t nicht<lb/>
anders, der Men&#x017F;ch hat dir's angethan! Aber während<lb/>
ich innerlich &#x017F;o &#x017F;prach: der Men&#x017F;ch! &#x017F;tellte &#x017F;ich frei¬<lb/>
willig die Vernunft ein: der Men&#x017F;ch! O ja, ein<lb/>
Men&#x017F;ch! ein men&#x017F;chlicher Men&#x017F;ch! Die Stimmung<lb/>
kam wieder, in welcher ich Bürglen zugewandert war:<lb/>
Reue über mein hartes Anla&#x017F;&#x017F;en dort auf der Axen¬<lb/>
&#x017F;traße, Rührung, Mitleid, Liebe, und hinter und über<lb/>
der Liebe Achtung, und je mehr Achtung, um &#x017F;o mehr<lb/>
wieder Mitleid; kreuzwei&#x017F;e durchbohrt von all' den<lb/>
wider&#x017F;prechenden Gefühlen, aufgeregt im Grunde der<lb/>
Seele und niederge&#x017F;chlagen zugleich langte ich in Am¬<lb/>
&#x017F;teg an und nur die Ermüdung brachte mir den er¬<lb/>
wün&#x017F;chten Schlaf, tief und traumlos, wie er nach<lb/>
tüchtigem Mar&#x017F;ch den Wanderer erquickt.</p><lb/>
        <p>Ich &#x017F;tand früh auf und gieng rü&#x017F;tig meiner Straße.<lb/>
Mein A. E. &#x017F;chien dießmal wenig&#x017F;tens keine Wetter-<lb/>
Ka&#x017F;&#x017F;andra gewe&#x017F;en zu &#x017F;ein. Die Luft war hell; der<lb/>
Bri&#x017F;ten&#x017F;tock &#x017F;tieg rein gezeichnet in die Höhe und gönnte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0081] mich bückte, die ſieben Sachen aufzuleſen, erſchrack ich über mich ſelbſt in der Tiefe meiner Seele: „Um Gottes willen,“ rief es in mir, „der Menſch hat dich angeſteckt, du wirſt verrückt!“ Es zogen mir Wolken, Wallungen über das Gehirn her, und als ich in die Wirbel ſah, in denen das Waſſer zwiſchen den Granit¬ blöcken ſich dreht, um dann ſchäumend vor- und hinab¬ zuſtürzen, ſo wurde mir, als wirble und ſchäume es mir gerade ſo in meinem armen Kopfe. Ja, ja! es iſt nicht anders, der Menſch hat dir's angethan! Aber während ich innerlich ſo ſprach: der Menſch! ſtellte ſich frei¬ willig die Vernunft ein: der Menſch! O ja, ein Menſch! ein menſchlicher Menſch! Die Stimmung kam wieder, in welcher ich Bürglen zugewandert war: Reue über mein hartes Anlaſſen dort auf der Axen¬ ſtraße, Rührung, Mitleid, Liebe, und hinter und über der Liebe Achtung, und je mehr Achtung, um ſo mehr wieder Mitleid; kreuzweiſe durchbohrt von all' den widerſprechenden Gefühlen, aufgeregt im Grunde der Seele und niedergeſchlagen zugleich langte ich in Am¬ ſteg an und nur die Ermüdung brachte mir den er¬ wünſchten Schlaf, tief und traumlos, wie er nach tüchtigem Marſch den Wanderer erquickt. Ich ſtand früh auf und gieng rüſtig meiner Straße. Mein A. E. ſchien dießmal wenigſtens keine Wetter- Kaſſandra geweſen zu ſein. Die Luft war hell; der Briſtenſtock ſtieg rein gezeichnet in die Höhe und gönnte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/81
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/81>, abgerufen am 22.12.2024.