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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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"Wir können es mit Vordenken übersetzen."

"Recht, also Vordenken. Sehen Sie, gieng man
mit dem Seligen durch diese Straße, da hatte man
seine liebe Noth. Er war so furchtbar heftig gegen
unbequemes Indenweglaufen, er gieng auch sehr
schnell --"

"Jawohl, und straff geradlinig, immer die kürzeste
Linie beschreibend, es schien mir, er könne gar nicht
schlendern, ich bemerkte, daß er, wo irgend möglich,
bei Biegungen des Weges die Sehne des Bogens
gieng --"

"Freilich! freilich! Und im Menschengedränge, da
war es ja nicht möglich, so direkt und rasch nach dem
Ziel zu eilen. -- Nun brauche ich Ihnen nicht erst
zu sagen, daß er das sehr wohl begriff, so unver¬
nünftig, so sinnlos ungeduldig war er ja nicht. Er
nahm das Gedränge ganz in Rechnung, faßte mit
seinen scharfen Sinnen das Raumbild mit den darin
sich bewegenden Menschen blitzschnell auf und zog sich
im Geist augenblicklich eine Linie, auf welcher er durch
die gegebenen Lücken wie ein Pfeil hindurchschießen
wolle. Bei dieser Linearberechnung vergaß er nur,
daß der Zufall noch schneller ist, als unsere Strategie,
und in solche Engpässe im Nu neue Wanderer hinein¬
zuschieben pflegt. Wenn nun das geschah, so wurde
er -- nicht sogleich, aber bei lästiger Wiederholung --
geradezu wüthend; er erklärte die Eindringlinge für

„Wir können es mit Vordenken überſetzen.“

„Recht, alſo Vordenken. Sehen Sie, gieng man
mit dem Seligen durch dieſe Straße, da hatte man
ſeine liebe Noth. Er war ſo furchtbar heftig gegen
unbequemes Indenweglaufen, er gieng auch ſehr
ſchnell —“

„Jawohl, und ſtraff geradlinig, immer die kürzeſte
Linie beſchreibend, es ſchien mir, er könne gar nicht
ſchlendern, ich bemerkte, daß er, wo irgend möglich,
bei Biegungen des Weges die Sehne des Bogens
gieng —“

„Freilich! freilich! Und im Menſchengedränge, da
war es ja nicht möglich, ſo direkt und raſch nach dem
Ziel zu eilen. — Nun brauche ich Ihnen nicht erſt
zu ſagen, daß er das ſehr wohl begriff, ſo unver¬
nünftig, ſo ſinnlos ungeduldig war er ja nicht. Er
nahm das Gedränge ganz in Rechnung, faßte mit
ſeinen ſcharfen Sinnen das Raumbild mit den darin
ſich bewegenden Menſchen blitzſchnell auf und zog ſich
im Geiſt augenblicklich eine Linie, auf welcher er durch
die gegebenen Lücken wie ein Pfeil hindurchſchießen
wolle. Bei dieſer Linearberechnung vergaß er nur,
daß der Zufall noch ſchneller iſt, als unſere Strategie,
und in ſolche Engpäſſe im Nu neue Wanderer hinein¬
zuſchieben pflegt. Wenn nun das geſchah, ſo wurde
er — nicht ſogleich, aber bei läſtiger Wiederholung —
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[92/0105] „Wir können es mit Vordenken überſetzen.“ „Recht, alſo Vordenken. Sehen Sie, gieng man mit dem Seligen durch dieſe Straße, da hatte man ſeine liebe Noth. Er war ſo furchtbar heftig gegen unbequemes Indenweglaufen, er gieng auch ſehr ſchnell —“ „Jawohl, und ſtraff geradlinig, immer die kürzeſte Linie beſchreibend, es ſchien mir, er könne gar nicht ſchlendern, ich bemerkte, daß er, wo irgend möglich, bei Biegungen des Weges die Sehne des Bogens gieng —“ „Freilich! freilich! Und im Menſchengedränge, da war es ja nicht möglich, ſo direkt und raſch nach dem Ziel zu eilen. — Nun brauche ich Ihnen nicht erſt zu ſagen, daß er das ſehr wohl begriff, ſo unver¬ nünftig, ſo ſinnlos ungeduldig war er ja nicht. Er nahm das Gedränge ganz in Rechnung, faßte mit ſeinen ſcharfen Sinnen das Raumbild mit den darin ſich bewegenden Menſchen blitzſchnell auf und zog ſich im Geiſt augenblicklich eine Linie, auf welcher er durch die gegebenen Lücken wie ein Pfeil hindurchſchießen wolle. Bei dieſer Linearberechnung vergaß er nur, daß der Zufall noch ſchneller iſt, als unſere Strategie, und in ſolche Engpäſſe im Nu neue Wanderer hinein¬ zuſchieben pflegt. Wenn nun das geſchah, ſo wurde er — nicht ſogleich, aber bei läſtiger Wiederholung — geradezu wüthend; er erklärte die Eindringlinge für

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/105>, abgerufen am 21.11.2024.