das erste Mal gesehen hatte, der eine schon zum Jüng¬ ling entwickelt. Sie hatten beide die dunklen, großen, von langen Wimpern beschatteten Augen der Mutter und blickten mich an wie einen Vertrauten ihres Kummers, ich umarmte die Frühverwaisten und küßte sie auf die reinen Stirnen.
Mit fliegendem Stifte und, ich gestehe es, mit zitternder Hand zeichnete ich mir in der Herberge auf, was ich vernommen, und beschloß, nicht, wie ich ge¬ wollt, in Wasen zu übernachten. Ich hätte nicht schlafen können, ich zog einen nächtlichen Marsch bis Amsteg vor, um durch Ermüdung Ruhe zu finden. Es war ein dunkler Gang, dunkel von innen wie von außen.
Freier und heller wurde es in mir, als am andern Vormittag der Vierwaldstättersee im Gürtel seiner stolzen Ufer groß, weit, den blauen Himmel spiegelnd vor meinen Augen sich aufthat. Das sonnige Bild schien mir zu sagen, daß im unendlichen All doch jeder Mislaut sich lösen muß, und ich durfte es mir be¬ stätigen, indem ich bedachte, daß auch der umgetriebene Sohn der Erde, mit dem ich einst dort drüben auf der Axenstraße gewandelt, doch freien Geistes über den Rissen und Klüften in seiner Seele schwebte und daß ihm gegönnt war, mit einer letzten reinen Rührung im Gemüthe sein Einzelleben dem Weltall zurück¬ zugeben.
das erſte Mal geſehen hatte, der eine ſchon zum Jüng¬ ling entwickelt. Sie hatten beide die dunklen, großen, von langen Wimpern beſchatteten Augen der Mutter und blickten mich an wie einen Vertrauten ihres Kummers, ich umarmte die Frühverwaisten und küßte ſie auf die reinen Stirnen.
Mit fliegendem Stifte und, ich geſtehe es, mit zitternder Hand zeichnete ich mir in der Herberge auf, was ich vernommen, und beſchloß, nicht, wie ich ge¬ wollt, in Waſen zu übernachten. Ich hätte nicht ſchlafen können, ich zog einen nächtlichen Marſch bis Amſteg vor, um durch Ermüdung Ruhe zu finden. Es war ein dunkler Gang, dunkel von innen wie von außen.
Freier und heller wurde es in mir, als am andern Vormittag der Vierwaldſtätterſee im Gürtel ſeiner ſtolzen Ufer groß, weit, den blauen Himmel ſpiegelnd vor meinen Augen ſich aufthat. Das ſonnige Bild ſchien mir zu ſagen, daß im unendlichen All doch jeder Mislaut ſich löſen muß, und ich durfte es mir be¬ ſtätigen, indem ich bedachte, daß auch der umgetriebene Sohn der Erde, mit dem ich einſt dort drüben auf der Axenſtraße gewandelt, doch freien Geiſtes über den Riſſen und Klüften in ſeiner Seele ſchwebte und daß ihm gegönnt war, mit einer letzten reinen Rührung im Gemüthe ſein Einzelleben dem Weltall zurück¬ zugeben.
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das erſte Mal geſehen hatte, der eine ſchon zum Jüng¬
ling entwickelt. Sie hatten beide die dunklen, großen,
von langen Wimpern beſchatteten Augen der Mutter
und blickten mich an wie einen Vertrauten ihres Kummers,
ich umarmte die Frühverwaisten und küßte ſie auf die
reinen Stirnen.
Mit fliegendem Stifte und, ich geſtehe es, mit
zitternder Hand zeichnete ich mir in der Herberge auf,
was ich vernommen, und beſchloß, nicht, wie ich ge¬
wollt, in Waſen zu übernachten. Ich hätte nicht
ſchlafen können, ich zog einen nächtlichen Marſch bis
Amſteg vor, um durch Ermüdung Ruhe zu finden.
Es war ein dunkler Gang, dunkel von innen wie
von außen.
Freier und heller wurde es in mir, als am andern
Vormittag der Vierwaldſtätterſee im Gürtel ſeiner ſtolzen
Ufer groß, weit, den blauen Himmel ſpiegelnd vor
meinen Augen ſich aufthat. Das ſonnige Bild ſchien
mir zu ſagen, daß im unendlichen All doch jeder
Mislaut ſich löſen muß, und ich durfte es mir be¬
ſtätigen, indem ich bedachte, daß auch der umgetriebene
Sohn der Erde, mit dem ich einſt dort drüben auf
der Axenſtraße gewandelt, doch freien Geiſtes über den
Riſſen und Klüften in ſeiner Seele ſchwebte und daß
ihm gegönnt war, mit einer letzten reinen Rührung
im Gemüthe ſein Einzelleben dem Weltall zurück¬
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/120>, abgerufen am 21.11.2024.
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