sich bringen. Geht etwas vor in mir. Es ist wie eine Art Zahnen im Geist. Die Menschen werden mir durchsichtig. Es fällt mir wie Schuppen vom Auge. Eigentlich ein gar schwerer Uebergang! Denn seit die Menschen nackt vor mir stehen, weiß ich erst recht, daß die Mehrheit Lumpenpack ist. Kommt dazu das sicht¬ bar beschleunigte Wachsthum der Schlechtigkeit in jetziger Zeit. Es ist schon zum Bitterwerden. War einst so zutraulich, auch Polizeiberuf machte mich lange nicht mistrauisch, dachte: das sind Ausnahmen, gieng nament¬ lich gern mit dem Bürger um, der Stand kam mir so recht kernhaft vor; fragte nicht lange nach Personalien. Jetzt kann man nicht mehr wohl mit einem Unbekannten sich einlassen, -- vielleicht Gründer, -- Sattler, der Roßhaar herausnimmt, Seegras hineinsteckt, -- Fälscher von Waaren, Lebensmitteln, Kassendieb -- und weiß der Teufel, was Alles.
Dennoch soll man sich nicht verbittern lassen. Wenn man nicht zählt, sondern wägt, so wiegt ja doch die anständige Minderheit die schlechte Mehrheit auf; wohl selbst jetzt noch. Ferner: du darfst kein Menschenver¬ ächter werden, weil du nie wissen kannst, wer aus der schlechten Mehrheit fähig, empfänglich ist, in die Minder¬ heit heraufgehoben zu werden. Die Grenze zwischen Beiden ist flüssig. Man kann also heiter bleiben trotz der Weltlumperei, und man braucht diese Stimmung, eben um jene Grenze flüssig zu erhalten. Umgekehrt
ſich bringen. Geht etwas vor in mir. Es iſt wie eine Art Zahnen im Geiſt. Die Menſchen werden mir durchſichtig. Es fällt mir wie Schuppen vom Auge. Eigentlich ein gar ſchwerer Uebergang! Denn ſeit die Menſchen nackt vor mir ſtehen, weiß ich erſt recht, daß die Mehrheit Lumpenpack iſt. Kommt dazu das ſicht¬ bar beſchleunigte Wachsthum der Schlechtigkeit in jetziger Zeit. Es iſt ſchon zum Bitterwerden. War einſt ſo zutraulich, auch Polizeiberuf machte mich lange nicht mistrauiſch, dachte: das ſind Ausnahmen, gieng nament¬ lich gern mit dem Bürger um, der Stand kam mir ſo recht kernhaft vor; fragte nicht lange nach Perſonalien. Jetzt kann man nicht mehr wohl mit einem Unbekannten ſich einlaſſen, — vielleicht Gründer, — Sattler, der Roßhaar herausnimmt, Seegras hineinſteckt, — Fälſcher von Waaren, Lebensmitteln, Kaſſendieb — und weiß der Teufel, was Alles.
Dennoch ſoll man ſich nicht verbittern laſſen. Wenn man nicht zählt, ſondern wägt, ſo wiegt ja doch die anſtändige Minderheit die ſchlechte Mehrheit auf; wohl ſelbſt jetzt noch. Ferner: du darfſt kein Menſchenver¬ ächter werden, weil du nie wiſſen kannſt, wer aus der ſchlechten Mehrheit fähig, empfänglich iſt, in die Minder¬ heit heraufgehoben zu werden. Die Grenze zwiſchen Beiden iſt flüſſig. Man kann alſo heiter bleiben trotz der Weltlumperei, und man braucht dieſe Stimmung, eben um jene Grenze flüſſig zu erhalten. Umgekehrt
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ſich bringen. Geht etwas vor in mir. Es iſt wie
eine Art Zahnen im Geiſt. Die Menſchen werden mir
durchſichtig. Es fällt mir wie Schuppen vom Auge.
Eigentlich ein gar ſchwerer Uebergang! Denn ſeit die
Menſchen nackt vor mir ſtehen, weiß ich erſt recht, daß
die Mehrheit Lumpenpack iſt. Kommt dazu das ſicht¬
bar beſchleunigte Wachsthum der Schlechtigkeit in jetziger
Zeit. Es iſt ſchon zum Bitterwerden. War einſt ſo
zutraulich, auch Polizeiberuf machte mich lange nicht
mistrauiſch, dachte: das ſind Ausnahmen, gieng nament¬
lich gern mit dem Bürger um, der Stand kam mir ſo
recht kernhaft vor; fragte nicht lange nach Perſonalien.
Jetzt kann man nicht mehr wohl mit einem Unbekannten
ſich einlaſſen, — vielleicht Gründer, — Sattler, der
Roßhaar herausnimmt, Seegras hineinſteckt, — Fälſcher
von Waaren, Lebensmitteln, Kaſſendieb — und weiß
der Teufel, was Alles.
Dennoch ſoll man ſich nicht verbittern laſſen. Wenn
man nicht zählt, ſondern wägt, ſo wiegt ja doch die
anſtändige Minderheit die ſchlechte Mehrheit auf; wohl
ſelbſt jetzt noch. Ferner: du darfſt kein Menſchenver¬
ächter werden, weil du nie wiſſen kannſt, wer aus der
ſchlechten Mehrheit fähig, empfänglich iſt, in die Minder¬
heit heraufgehoben zu werden. Die Grenze zwiſchen
Beiden iſt flüſſig. Man kann alſo heiter bleiben trotz
der Weltlumperei, und man braucht dieſe Stimmung,
eben um jene Grenze flüſſig zu erhalten. Umgekehrt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/361>, abgerufen am 22.11.2024.
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