Spitzen? Das konnte nur eine Phantasieübertragung des Eindrucks sein, den die Gesichtszüge mir machten. Aus diesen Augen blitzte etwas, auf diesen Lippen, dieser leicht gehobenen Unterlippe saß etwas, um diese Mundwinkel spielte etwas, das ich unbewußt in die Vorstellung Schlange übersetzte. Und doch wieder ein Gepräge der Tüchtigkeit und eine Anmuth! Aus den¬ selben Augen schien Juno und Aphrodite zu blicken, auf diesen Lippen sich edler Stolz und freie Gewährung zu wiegen, auf dieser Stirne, auf dieser fein geboge¬ nen Nase sinniges Denken und heiterer Witz zu thronen. Während ich in diesen Anblick verloren war, rief Frau Hedwig: "Halt! hier ist das rechte!" Unter dem Um¬ schlag eines Papierstoßes war ein Blatt hervorgefallen, sie hatte es aufgenommen, betrachtete und bot es mir her. Es war eine Kreidezeichnung, ebenfalls ein weibliches Brustbild, und ich erkannte im Augenblick die Dame von Flüelen und Bürglen. Ich hielt beide Bildnisse nebeneinander in der Hand, Frau Hedwig sah mir über die Schulter, vertieft wie ich in den vergleichen¬ den Anblick. Unter dem zweiten stand: Soteira. Als ich das Wort aussprach, rief Frau Hedwig: "Das ist's! So klang sein letztes Wort!" Ich über¬ setzte: Retterin. -- "Retterin?" sagte sie, nickte und wurde sehr nachdenklich. Dann fragte sie mich: "Haben Sie dieß Weib gesehen?" Ich erzählte ihr jetzt den Theil unserer gemeinsamen Reiseerlebnisse, den ihr
Vischer, Auch Einer. II. 4
Spitzen? Das konnte nur eine Phantaſieübertragung des Eindrucks ſein, den die Geſichtszüge mir machten. Aus dieſen Augen blitzte etwas, auf dieſen Lippen, dieſer leicht gehobenen Unterlippe ſaß etwas, um dieſe Mundwinkel ſpielte etwas, das ich unbewußt in die Vorſtellung Schlange überſetzte. Und doch wieder ein Gepräge der Tüchtigkeit und eine Anmuth! Aus den¬ ſelben Augen ſchien Juno und Aphrodite zu blicken, auf dieſen Lippen ſich edler Stolz und freie Gewährung zu wiegen, auf dieſer Stirne, auf dieſer fein geboge¬ nen Naſe ſinniges Denken und heiterer Witz zu thronen. Während ich in dieſen Anblick verloren war, rief Frau Hedwig: „Halt! hier iſt das rechte!“ Unter dem Um¬ ſchlag eines Papierſtoßes war ein Blatt hervorgefallen, ſie hatte es aufgenommen, betrachtete und bot es mir her. Es war eine Kreidezeichnung, ebenfalls ein weibliches Bruſtbild, und ich erkannte im Augenblick die Dame von Flüelen und Bürglen. Ich hielt beide Bildniſſe nebeneinander in der Hand, Frau Hedwig ſah mir über die Schulter, vertieft wie ich in den vergleichen¬ den Anblick. Unter dem zweiten ſtand: Σώτειϱα. Als ich das Wort ausſprach, rief Frau Hedwig: „Das iſt's! So klang ſein letztes Wort!“ Ich über¬ ſetzte: Retterin. — „Retterin?“ ſagte ſie, nickte und wurde ſehr nachdenklich. Dann fragte ſie mich: „Haben Sie dieß Weib geſehen?“ Ich erzählte ihr jetzt den Theil unſerer gemeinſamen Reiſeerlebniſſe, den ihr
Viſcher, Auch Einer. II. 4
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0062"n="49"/>
Spitzen? Das konnte nur eine Phantaſieübertragung<lb/>
des Eindrucks ſein, den die Geſichtszüge mir machten.<lb/>
Aus dieſen Augen blitzte etwas, auf dieſen Lippen,<lb/>
dieſer leicht gehobenen Unterlippe ſaß etwas, um dieſe<lb/>
Mundwinkel ſpielte etwas, das ich unbewußt in die<lb/>
Vorſtellung Schlange überſetzte. Und doch wieder ein<lb/>
Gepräge der Tüchtigkeit und eine Anmuth! Aus den¬<lb/>ſelben Augen ſchien Juno und Aphrodite zu blicken,<lb/>
auf dieſen Lippen ſich edler Stolz und freie Gewährung<lb/>
zu wiegen, auf dieſer Stirne, auf dieſer fein geboge¬<lb/>
nen Naſe ſinniges Denken und heiterer Witz zu thronen.<lb/>
Während ich in dieſen Anblick verloren war, rief Frau<lb/>
Hedwig: „Halt! hier iſt das rechte!“ Unter dem Um¬<lb/>ſchlag eines Papierſtoßes war ein Blatt hervorgefallen,<lb/>ſie hatte es aufgenommen, betrachtete und bot es mir her.<lb/>
Es war eine Kreidezeichnung, ebenfalls ein weibliches<lb/>
Bruſtbild, und ich erkannte im Augenblick die Dame<lb/>
von Flüelen und Bürglen. Ich hielt beide Bildniſſe<lb/>
nebeneinander in der Hand, Frau Hedwig ſah mir<lb/>
über die Schulter, vertieft wie ich in den vergleichen¬<lb/>
den Anblick. Unter dem zweiten ſtand: Σώτειϱα.<lb/>
Als ich das Wort ausſprach, rief Frau Hedwig:<lb/>„Das iſt's! So klang ſein letztes Wort!“ Ich über¬<lb/>ſetzte: Retterin. —„Retterin?“ſagte ſie, nickte und<lb/>
wurde ſehr nachdenklich. Dann fragte ſie mich: „Haben<lb/>
Sie dieß Weib geſehen?“ Ich erzählte ihr jetzt den<lb/>
Theil unſerer gemeinſamen Reiſeerlebniſſe, den ihr<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Viſcher</hi>, Auch Einer. <hirendition="#aq">II</hi>. 4<lb/></fw></p></body></text></TEI>
[49/0062]
Spitzen? Das konnte nur eine Phantaſieübertragung
des Eindrucks ſein, den die Geſichtszüge mir machten.
Aus dieſen Augen blitzte etwas, auf dieſen Lippen,
dieſer leicht gehobenen Unterlippe ſaß etwas, um dieſe
Mundwinkel ſpielte etwas, das ich unbewußt in die
Vorſtellung Schlange überſetzte. Und doch wieder ein
Gepräge der Tüchtigkeit und eine Anmuth! Aus den¬
ſelben Augen ſchien Juno und Aphrodite zu blicken,
auf dieſen Lippen ſich edler Stolz und freie Gewährung
zu wiegen, auf dieſer Stirne, auf dieſer fein geboge¬
nen Naſe ſinniges Denken und heiterer Witz zu thronen.
Während ich in dieſen Anblick verloren war, rief Frau
Hedwig: „Halt! hier iſt das rechte!“ Unter dem Um¬
ſchlag eines Papierſtoßes war ein Blatt hervorgefallen,
ſie hatte es aufgenommen, betrachtete und bot es mir her.
Es war eine Kreidezeichnung, ebenfalls ein weibliches
Bruſtbild, und ich erkannte im Augenblick die Dame
von Flüelen und Bürglen. Ich hielt beide Bildniſſe
nebeneinander in der Hand, Frau Hedwig ſah mir
über die Schulter, vertieft wie ich in den vergleichen¬
den Anblick. Unter dem zweiten ſtand: Σώτειϱα.
Als ich das Wort ausſprach, rief Frau Hedwig:
„Das iſt's! So klang ſein letztes Wort!“ Ich über¬
ſetzte: Retterin. — „Retterin?“ ſagte ſie, nickte und
wurde ſehr nachdenklich. Dann fragte ſie mich: „Haben
Sie dieß Weib geſehen?“ Ich erzählte ihr jetzt den
Theil unſerer gemeinſamen Reiſeerlebniſſe, den ihr
Viſcher, Auch Einer. II. 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/62>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.