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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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Spitzen? Das konnte nur eine Phantasieübertragung
des Eindrucks sein, den die Gesichtszüge mir machten.
Aus diesen Augen blitzte etwas, auf diesen Lippen,
dieser leicht gehobenen Unterlippe saß etwas, um diese
Mundwinkel spielte etwas, das ich unbewußt in die
Vorstellung Schlange übersetzte. Und doch wieder ein
Gepräge der Tüchtigkeit und eine Anmuth! Aus den¬
selben Augen schien Juno und Aphrodite zu blicken,
auf diesen Lippen sich edler Stolz und freie Gewährung
zu wiegen, auf dieser Stirne, auf dieser fein geboge¬
nen Nase sinniges Denken und heiterer Witz zu thronen.
Während ich in diesen Anblick verloren war, rief Frau
Hedwig: "Halt! hier ist das rechte!" Unter dem Um¬
schlag eines Papierstoßes war ein Blatt hervorgefallen,
sie hatte es aufgenommen, betrachtete und bot es mir her.
Es war eine Kreidezeichnung, ebenfalls ein weibliches
Brustbild, und ich erkannte im Augenblick die Dame
von Flüelen und Bürglen. Ich hielt beide Bildnisse
nebeneinander in der Hand, Frau Hedwig sah mir
über die Schulter, vertieft wie ich in den vergleichen¬
den Anblick. Unter dem zweiten stand: Soteira.
Als ich das Wort aussprach, rief Frau Hedwig:
"Das ist's! So klang sein letztes Wort!" Ich über¬
setzte: Retterin. -- "Retterin?" sagte sie, nickte und
wurde sehr nachdenklich. Dann fragte sie mich: "Haben
Sie dieß Weib gesehen?" Ich erzählte ihr jetzt den
Theil unserer gemeinsamen Reiseerlebnisse, den ihr

Vischer, Auch Einer. II. 4

Spitzen? Das konnte nur eine Phantaſieübertragung
des Eindrucks ſein, den die Geſichtszüge mir machten.
Aus dieſen Augen blitzte etwas, auf dieſen Lippen,
dieſer leicht gehobenen Unterlippe ſaß etwas, um dieſe
Mundwinkel ſpielte etwas, das ich unbewußt in die
Vorſtellung Schlange überſetzte. Und doch wieder ein
Gepräge der Tüchtigkeit und eine Anmuth! Aus den¬
ſelben Augen ſchien Juno und Aphrodite zu blicken,
auf dieſen Lippen ſich edler Stolz und freie Gewährung
zu wiegen, auf dieſer Stirne, auf dieſer fein geboge¬
nen Naſe ſinniges Denken und heiterer Witz zu thronen.
Während ich in dieſen Anblick verloren war, rief Frau
Hedwig: „Halt! hier iſt das rechte!“ Unter dem Um¬
ſchlag eines Papierſtoßes war ein Blatt hervorgefallen,
ſie hatte es aufgenommen, betrachtete und bot es mir her.
Es war eine Kreidezeichnung, ebenfalls ein weibliches
Bruſtbild, und ich erkannte im Augenblick die Dame
von Flüelen und Bürglen. Ich hielt beide Bildniſſe
nebeneinander in der Hand, Frau Hedwig ſah mir
über die Schulter, vertieft wie ich in den vergleichen¬
den Anblick. Unter dem zweiten ſtand: Σώτειϱα.
Als ich das Wort ausſprach, rief Frau Hedwig:
„Das iſt's! So klang ſein letztes Wort!“ Ich über¬
ſetzte: Retterin. — „Retterin?“ ſagte ſie, nickte und
wurde ſehr nachdenklich. Dann fragte ſie mich: „Haben
Sie dieß Weib geſehen?“ Ich erzählte ihr jetzt den
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Viſcher, Auch Einer. II. 4
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[49/0062] Spitzen? Das konnte nur eine Phantaſieübertragung des Eindrucks ſein, den die Geſichtszüge mir machten. Aus dieſen Augen blitzte etwas, auf dieſen Lippen, dieſer leicht gehobenen Unterlippe ſaß etwas, um dieſe Mundwinkel ſpielte etwas, das ich unbewußt in die Vorſtellung Schlange überſetzte. Und doch wieder ein Gepräge der Tüchtigkeit und eine Anmuth! Aus den¬ ſelben Augen ſchien Juno und Aphrodite zu blicken, auf dieſen Lippen ſich edler Stolz und freie Gewährung zu wiegen, auf dieſer Stirne, auf dieſer fein geboge¬ nen Naſe ſinniges Denken und heiterer Witz zu thronen. Während ich in dieſen Anblick verloren war, rief Frau Hedwig: „Halt! hier iſt das rechte!“ Unter dem Um¬ ſchlag eines Papierſtoßes war ein Blatt hervorgefallen, ſie hatte es aufgenommen, betrachtete und bot es mir her. Es war eine Kreidezeichnung, ebenfalls ein weibliches Bruſtbild, und ich erkannte im Augenblick die Dame von Flüelen und Bürglen. Ich hielt beide Bildniſſe nebeneinander in der Hand, Frau Hedwig ſah mir über die Schulter, vertieft wie ich in den vergleichen¬ den Anblick. Unter dem zweiten ſtand: Σώτειϱα. Als ich das Wort ausſprach, rief Frau Hedwig: „Das iſt's! So klang ſein letztes Wort!“ Ich über¬ ſetzte: Retterin. — „Retterin?“ ſagte ſie, nickte und wurde ſehr nachdenklich. Dann fragte ſie mich: „Haben Sie dieß Weib geſehen?“ Ich erzählte ihr jetzt den Theil unſerer gemeinſamen Reiſeerlebniſſe, den ihr Viſcher, Auch Einer. II. 4

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/62>, abgerufen am 25.11.2024.