Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1278.001 2. Was der §. ganz allgemein über das Versmaaß sagt, ist hier pvi_1278.009 §. 870. pvi_1278.0191, Für die epische Composition entspringt hieraus das Gesetz der stetig pvi_1278.020 1. Was über die Art der Fortbewegung gesagt ist, greift bereits in pvi_1278.029
pvi_1278.001 2. Was der §. ganz allgemein über das Versmaaß sagt, ist hier pvi_1278.009 §. 870. pvi_1278.0191, Für die epische Composition entspringt hieraus das Gesetz der stetig pvi_1278.020 1. Was über die Art der Fortbewegung gesagt ist, greift bereits in pvi_1278.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0140" n="1278"/><lb n="pvi_1278.001"/> uns anschnürt, durchzuschneiden. Die Weiber freilich thun dasselbe <lb n="pvi_1278.002"/> aus anderem Grund und mit anderem Erfolg; haben sie die Endpuncte vorweggenommen, <lb n="pvi_1278.003"/> so verlieren sie den Genuß der Linie zwischen beiden. – <lb n="pvi_1278.004"/> Der wahre epische Dichter „schildert uns das ruhige Dasein der Dinge <lb n="pvi_1278.005"/> nach ihren Naturen; <hi rendition="#g">sein Zweck liegt schon in jedem Puncte <lb n="pvi_1278.006"/> seiner Bewegung,</hi> darum eilen wir nicht ungeduldig zum Ziele, sondern <lb n="pvi_1278.007"/> verweilen mit Liebe bei jedem Schritte“ (Schiller a. a. O. Th. 3, S. 73).</hi> </p> <lb n="pvi_1278.008"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Was der §. ganz allgemein über das <hi rendition="#g">Versmaaß</hi> sagt, ist hier <lb n="pvi_1278.009"/> noch nicht näher auseinanderzusetzen, um für die tiefen Unterschiede bis zum <lb n="pvi_1278.010"/> metrisch nicht gebundenen Wohlklange der Prosa im Roman Raum zu lassen. <lb n="pvi_1278.011"/> Es genügt der allgemeine Satz, daß die episch rhythmische Form vor Allem <lb n="pvi_1278.012"/> die Hoheit der Empfindung auszudrücken hat, welche das mächtige Weltbild <lb n="pvi_1278.013"/> des Jnhalts mit sich bringt, daß derselbe sich als Ruhe im Fortschritt, <lb n="pvi_1278.014"/> als feierlich gemessener Gang äußern muß, dem aber ein belebender Wechsel <lb n="pvi_1278.015"/> von Beschleunigungsverhältnissen nicht fehlen darf. Der Gang des Hexameters <lb n="pvi_1278.016"/> bleibt freilich für diesen Zweck so normal, daß er schon hier wie <lb n="pvi_1278.017"/> ein Dogma genannt werden darf.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1278.018"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 870.</hi> </p> <lb n="pvi_1278.019"/> <note place="left">1,</note> <p> Für die epische <hi rendition="#g">Composition</hi> entspringt hieraus das Gesetz der stetig <lb n="pvi_1278.020"/> fortschreitenden, die Contraste dämpfenden Motivirung, aber zugleich das Gesetz <lb n="pvi_1278.021"/> der starken Herrschaft rückschreitender und hemmender Motive, der relativen <lb n="pvi_1278.022"/> Selbständigkeit der Theile, und eines bedeutenden Spielraums für die Episode <lb n="pvi_1278.023"/> <note place="left">2.</note>(vergl. §. 496). Die Masse, die sich auf dem weiten Sehfelde wie auf einer <lb n="pvi_1278.024"/> unendlichen Fläche ausbreitet, ist durch bestimmte Auseinanderhaltung eines <lb n="pvi_1278.025"/> Hintergrundes und eines die Hauptgruppe enthaltenden Vordergrundes näher <lb n="pvi_1278.026"/> zu gliedern und in der Vielheit einzelner Handlungen durch die Alles bindende <lb n="pvi_1278.027"/> Haupthandlung mit Anfang, Mitte und Schluß die <hi rendition="#g">Einheit</hi> zu sichern.</p> <lb n="pvi_1278.028"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Was über die Art der Fortbewegung gesagt ist, greift bereits in <lb n="pvi_1278.029"/> das Compositionsgesetz ein. Wir haben die Motivirung als ein wesentliches <lb n="pvi_1278.030"/> Band des Zusammenhalts der Einheit und Vielheit in der geistigen Organisation <lb n="pvi_1278.031"/> des Kunstwerks erkannt (§. 499). Es erhellt nun aus Allem, <lb n="pvi_1278.032"/> was als epische Stylbedingung sich ergeben hat, daß dieses Moment in <lb n="pvi_1278.033"/> ganz besonderem Sinne zu den Aufgaben der epischen Composition gehört, <lb n="pvi_1278.034"/> und dasselbe umfaßt das ganze Gebiet der vermittelnden, lückenlos fortführenden <lb n="pvi_1278.035"/> Wirkungen, das Reichliche, Gefüllte, die völlige Auswicklung, die Milderung <lb n="pvi_1278.036"/> der Contraste. Diese mögen in vollem Kampf aufeinanderstoßen, aber dieselbe <lb n="pvi_1278.037"/> liebende Hand hat die Griechen und Trojaner, Achilles und Hektor, <lb n="pvi_1278.038"/> Odysseus und die Freier, selbst Polyphem mit dem Flusse der plastischen Linie </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1278/0140]
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uns anschnürt, durchzuschneiden. Die Weiber freilich thun dasselbe pvi_1278.002
aus anderem Grund und mit anderem Erfolg; haben sie die Endpuncte vorweggenommen, pvi_1278.003
so verlieren sie den Genuß der Linie zwischen beiden. – pvi_1278.004
Der wahre epische Dichter „schildert uns das ruhige Dasein der Dinge pvi_1278.005
nach ihren Naturen; sein Zweck liegt schon in jedem Puncte pvi_1278.006
seiner Bewegung, darum eilen wir nicht ungeduldig zum Ziele, sondern pvi_1278.007
verweilen mit Liebe bei jedem Schritte“ (Schiller a. a. O. Th. 3, S. 73).
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2. Was der §. ganz allgemein über das Versmaaß sagt, ist hier pvi_1278.009
noch nicht näher auseinanderzusetzen, um für die tiefen Unterschiede bis zum pvi_1278.010
metrisch nicht gebundenen Wohlklange der Prosa im Roman Raum zu lassen. pvi_1278.011
Es genügt der allgemeine Satz, daß die episch rhythmische Form vor Allem pvi_1278.012
die Hoheit der Empfindung auszudrücken hat, welche das mächtige Weltbild pvi_1278.013
des Jnhalts mit sich bringt, daß derselbe sich als Ruhe im Fortschritt, pvi_1278.014
als feierlich gemessener Gang äußern muß, dem aber ein belebender Wechsel pvi_1278.015
von Beschleunigungsverhältnissen nicht fehlen darf. Der Gang des Hexameters pvi_1278.016
bleibt freilich für diesen Zweck so normal, daß er schon hier wie pvi_1278.017
ein Dogma genannt werden darf.
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§. 870.
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Für die epische Composition entspringt hieraus das Gesetz der stetig pvi_1278.020
fortschreitenden, die Contraste dämpfenden Motivirung, aber zugleich das Gesetz pvi_1278.021
der starken Herrschaft rückschreitender und hemmender Motive, der relativen pvi_1278.022
Selbständigkeit der Theile, und eines bedeutenden Spielraums für die Episode pvi_1278.023
(vergl. §. 496). Die Masse, die sich auf dem weiten Sehfelde wie auf einer pvi_1278.024
unendlichen Fläche ausbreitet, ist durch bestimmte Auseinanderhaltung eines pvi_1278.025
Hintergrundes und eines die Hauptgruppe enthaltenden Vordergrundes näher pvi_1278.026
zu gliedern und in der Vielheit einzelner Handlungen durch die Alles bindende pvi_1278.027
Haupthandlung mit Anfang, Mitte und Schluß die Einheit zu sichern.
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1. Was über die Art der Fortbewegung gesagt ist, greift bereits in pvi_1278.029
das Compositionsgesetz ein. Wir haben die Motivirung als ein wesentliches pvi_1278.030
Band des Zusammenhalts der Einheit und Vielheit in der geistigen Organisation pvi_1278.031
des Kunstwerks erkannt (§. 499). Es erhellt nun aus Allem, pvi_1278.032
was als epische Stylbedingung sich ergeben hat, daß dieses Moment in pvi_1278.033
ganz besonderem Sinne zu den Aufgaben der epischen Composition gehört, pvi_1278.034
und dasselbe umfaßt das ganze Gebiet der vermittelnden, lückenlos fortführenden pvi_1278.035
Wirkungen, das Reichliche, Gefüllte, die völlige Auswicklung, die Milderung pvi_1278.036
der Contraste. Diese mögen in vollem Kampf aufeinanderstoßen, aber dieselbe pvi_1278.037
liebende Hand hat die Griechen und Trojaner, Achilles und Hektor, pvi_1278.038
Odysseus und die Freier, selbst Polyphem mit dem Flusse der plastischen Linie
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