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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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soll der Roman ein desto reicheres Gemälde entwerfen, denn dem Geiste pvi_1308.002
der Erfahrung steht Alles im Zusammenhang, sein Weltbild ist ein gefülltes, pvi_1308.003
kennt keine Lücken. Er ist naturgemäß polymythisch und wie Aristoteles pvi_1308.004
von der zweiten, "ethischen" Gattung des Epos sagt, in der Composition pvi_1308.005
verwickelt. Wir haben in dieser das entfernte Vorbild des Romans erkannt pvi_1308.006
(§. 874), sie als sittenbildlich im engeren Sinne bezeichnet und vom Romane pvi_1308.007
gilt dieß natürlich noch mehr. Der Romanheld nun heißt wirklich pvi_1308.008
nur in ironischem Sinne so, da er nicht eigentlich handelt, sondern wesentlich pvi_1308.009
der mehr unselbständige, nur verarbeitende Mittelpunct ist, in welchem die pvi_1308.010
Bedingungen des Weltlebens, die leitenden Mächte der Cultursumme einer pvi_1308.011
Zeit, die Maximen der Gesellschaft, die Wirkungen der Verhältnisse zusammenlaufen. pvi_1308.012
Er macht durch diesen Lebens-Complex seinen Bildungsgang, pvi_1308.013
er durchläuft die Schule der Erfahrung. Hier tritt nun die große Bedeutung pvi_1308.014
der Liebe ein. Die ganze moderne Welt erkennt in ihr ein Hauptmoment pvi_1308.015
in der Ergänzung und Reifung der Persönlichkeit. Das Ziel des pvi_1308.016
Romanhelden ist schließlich immer die Humanität, irgendwie gilt von jedem, pvi_1308.017
was Schiller vom Wilh. Meister sagt: er trete von einem leeren und unbestimmten pvi_1308.018
Jdeal in ein bestimmtes, thätiges Leben, aber ohne die idealisirende pvi_1308.019
Kraft dabei einzubüßen; er wird vom Leben realistisch erzogen, er pvi_1308.020
soll reif werden, zu wirken (- im Unterschiede vom Handeln -), aber pvi_1308.021
zu wirken als ein ganzer, voller, ausgerundeter Mensch, als eine Persönlichkeit. pvi_1308.022
Jn dieser Erziehung ist denn die Liebe, da wir das rein Menschliche, pvi_1308.023
Jdeale im Weibe symbolisch anschauen, ein wesentliches Moment und pvi_1308.024
zugleich Surrogat für die verlorene Poesie der heroisch=epischen Weltanschauung; pvi_1308.025
die tiefsten Metamorphosen der Persönlichkeit, so haben wir schon pvi_1308.026
zu §. 877, 1. gesagt, knüpfen sich an eine Leidenschaft, die auf sinnlicher pvi_1308.027
Grundlage den ganzen Menschen ergreift, alle seine geistigen Kräfte in pvi_1308.028
Bewegung setzt, an ihre Wechsel, Freuden, Leiden; sie wird so zu dem Bande, pvi_1308.029
an welchem der innere Bildungsgang des Menschen, obgleich er seinem pvi_1308.030
höheren Jnhalte nach weit darüber hinausliegt, seinen Verlauf nimmt. pvi_1308.031
Dieß führt zurück zu dem Wege der Gewinnung des Poetischen inmitten pvi_1308.032
der Prosa, den wir im vorh. §. zuletzt aufgeführt haben: die Geheimnisse pvi_1308.033
des Seelenlebens sind die Stelle, wohin das Jdeale sich geflüchtet hat, pvi_1308.034
nachdem das Reale prosaisch geworden ist. Die Kämpfe des Geistes, des pvi_1308.035
Gewissens, die tiefen Krisen der Ueberzeugung, der Weltanschauung, die pvi_1308.036
das bedeutende Jndividuum durchläuft, vereinigt mit den Kämpfen des pvi_1308.037
Gefühlslebens: dieß sind die Conflicte, dieß die Schlachten des Romans. pvi_1308.038
Doch natürlich sind dieß nicht blos innere Conflicte, sie erwachsen aus der pvi_1308.039
Erfahrung und der Grundconflict ist immer der des erfahrungslosen Herzens, pvi_1308.040
das mit seinen Jdealen in die Welt tritt, des Jünglings, der die unerbittliche pvi_1308.041
Natur der Wirklichkeit als einer Gesammtsumme von Bedingungen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/170>, abgerufen am 21.11.2024.