Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1310.001 §. 881. pvi_1310.0391. Nach Stoffgebieten eingetheilt nimmt der Roman vorherrschend das pvi_1310.040
pvi_1310.001 §. 881. pvi_1310.0391. Nach Stoffgebieten eingetheilt nimmt der Roman vorherrschend das pvi_1310.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0172" n="1310"/><lb n="pvi_1310.001"/> der moralischen, socialen, politischen, religiösen Theorieen und Jdeen unter <lb n="pvi_1310.002"/> dem unruhigen Standpuncte des Sollens auf und vergißt nun abermals, <lb n="pvi_1310.003"/> daß das wahrhaft Schöne zwecklos ist. Die Literatur hat Romane erlebt, <lb n="pvi_1310.004"/> deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen. Das Jnteresse am Jndividuum <lb n="pvi_1310.005"/> und seinen Schicksalen, namentlich in der Liebe, bringt ferner eine <lb n="pvi_1310.006"/> zu stoffartige Spannung der Neugierde mit sich, wie wir dieß schon früher <lb n="pvi_1310.007"/> berührt haben. – Die innern Mängel kommen aber vorzüglich am Schlusse <lb n="pvi_1310.008"/> zum Vorschein, denn dieser ist unvermeidlich hinkend. Die Frage ist nämlich <lb n="pvi_1310.009"/> einfach: was soll der Held am Ende werden? Zum politischen Heroen erzieht <lb n="pvi_1310.010"/> ihn der Roman nicht, unsere Aemter sind eine zu prosaische Form, um das <lb n="pvi_1310.011"/> Schiff, das unterwegs mit so vielen Bildungsschätzen ausgestattet worden <lb n="pvi_1310.012"/> ist, in diesem Hafen landen zu lassen. Es bleiben Thätigkeiten ohne <lb n="pvi_1310.013"/> bestimmte Form übrig, die aber sämmtlich etwas Precäres haben. Wilh. <lb n="pvi_1310.014"/> Meister wird Landwirth und ist dabei zugleich als wirkend in mancherlei <lb n="pvi_1310.015"/> Formen des Humanen und Schönen vorzustellen, allein der Dichter setzt <lb n="pvi_1310.016"/> doch einen gar zu fühlbaren Rest, wenn er, nachdem so viele Anstalten <lb n="pvi_1310.017"/> gehäuft waren, einen Menschen zu erziehen, uns ein so unbestimmtes Bild <lb n="pvi_1310.018"/> der Thätigkeit des reifen Mannes auf der untergeordneten, wenn auch <lb n="pvi_1310.019"/> ehrenwerthen Grundlage der bloßen Nützlichkeit gibt. Künstlerleben ist zu <lb n="pvi_1310.020"/> ideal, die Kunst thut nicht gut, die Kunst zum Objecte zu nehmen; geschieht <lb n="pvi_1310.021"/> es aber doch, so erscheint das Continuirliche einer bestimmten Thätigkeit, <lb n="pvi_1310.022"/> deren ideale Jnnenseite das Dichterwort doch nicht schildern kann, eben auch <lb n="pvi_1310.023"/> prosaisch. Dem Romane fehlt der Schluß durch die That, ebendaher hat <lb n="pvi_1310.024"/> er keinen rechten Schluß. Er hat die Stetigkeit des Prosaischen vorneherein <lb n="pvi_1310.025"/> anerkannt, muß wieder in sie münden und verläuft sich daher ohne festen <lb n="pvi_1310.026"/> Endpunct. Ein Hauptmoment des Roman-Schlusses ist die Beruhigung der <lb n="pvi_1310.027"/> Liebe in der Ehe. Hier verhält es sich nicht anders. Die Ehe ist eigentlich <lb n="pvi_1310.028"/> mehr, als die Liebe, aber in ihrer Stetigkeit nicht darzustellen, in ihrer <lb n="pvi_1310.029"/> Erscheinung prosaisch und so läuft auch diese Seite der gewonnenen Jdealität <lb n="pvi_1310.030"/> in zugestandene Prosa aus. Diesen Charakter, die Prosa nicht gründlich <lb n="pvi_1310.031"/> brechen zu können, gesteht nun der Roman auch dadurch zu, daß er in <lb n="pvi_1310.032"/> gebundener Sprache ganz undenkbar ist und mit bloßem entferntem Anklang <lb n="pvi_1310.033"/> des Rhythmischen sich begnügen muß. Allein die Sprachform wird auch <lb n="pvi_1310.034"/> zum rückwirkenden Motive, dießmal im schädlichen Sinne, und steigert die <lb n="pvi_1310.035"/> Versuchung, die an sich schon in der Dicht-Art liegt, stoffartige Massen <lb n="pvi_1310.036"/> von Historischem, Gelehrtem aller Art, unverarbeiteter Weisheit, Tendenziösem, <lb n="pvi_1310.037"/> Erbaulichem u. s. w. in das geduldige Gefäß zu schütten.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1310.038"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 881.</hi> </p> <lb n="pvi_1310.039"/> <note place="left">1.</note> <p> Nach <hi rendition="#g">Stoffgebieten</hi> eingetheilt nimmt der Roman vorherrschend das <lb n="pvi_1310.040"/> <hi rendition="#g">Privat</hi>leben zu seinem Schauplatz und sucht hier das Poetische entweder in </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1310/0172]
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der moralischen, socialen, politischen, religiösen Theorieen und Jdeen unter pvi_1310.002
dem unruhigen Standpuncte des Sollens auf und vergißt nun abermals, pvi_1310.003
daß das wahrhaft Schöne zwecklos ist. Die Literatur hat Romane erlebt, pvi_1310.004
deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen. Das Jnteresse am Jndividuum pvi_1310.005
und seinen Schicksalen, namentlich in der Liebe, bringt ferner eine pvi_1310.006
zu stoffartige Spannung der Neugierde mit sich, wie wir dieß schon früher pvi_1310.007
berührt haben. – Die innern Mängel kommen aber vorzüglich am Schlusse pvi_1310.008
zum Vorschein, denn dieser ist unvermeidlich hinkend. Die Frage ist nämlich pvi_1310.009
einfach: was soll der Held am Ende werden? Zum politischen Heroen erzieht pvi_1310.010
ihn der Roman nicht, unsere Aemter sind eine zu prosaische Form, um das pvi_1310.011
Schiff, das unterwegs mit so vielen Bildungsschätzen ausgestattet worden pvi_1310.012
ist, in diesem Hafen landen zu lassen. Es bleiben Thätigkeiten ohne pvi_1310.013
bestimmte Form übrig, die aber sämmtlich etwas Precäres haben. Wilh. pvi_1310.014
Meister wird Landwirth und ist dabei zugleich als wirkend in mancherlei pvi_1310.015
Formen des Humanen und Schönen vorzustellen, allein der Dichter setzt pvi_1310.016
doch einen gar zu fühlbaren Rest, wenn er, nachdem so viele Anstalten pvi_1310.017
gehäuft waren, einen Menschen zu erziehen, uns ein so unbestimmtes Bild pvi_1310.018
der Thätigkeit des reifen Mannes auf der untergeordneten, wenn auch pvi_1310.019
ehrenwerthen Grundlage der bloßen Nützlichkeit gibt. Künstlerleben ist zu pvi_1310.020
ideal, die Kunst thut nicht gut, die Kunst zum Objecte zu nehmen; geschieht pvi_1310.021
es aber doch, so erscheint das Continuirliche einer bestimmten Thätigkeit, pvi_1310.022
deren ideale Jnnenseite das Dichterwort doch nicht schildern kann, eben auch pvi_1310.023
prosaisch. Dem Romane fehlt der Schluß durch die That, ebendaher hat pvi_1310.024
er keinen rechten Schluß. Er hat die Stetigkeit des Prosaischen vorneherein pvi_1310.025
anerkannt, muß wieder in sie münden und verläuft sich daher ohne festen pvi_1310.026
Endpunct. Ein Hauptmoment des Roman-Schlusses ist die Beruhigung der pvi_1310.027
Liebe in der Ehe. Hier verhält es sich nicht anders. Die Ehe ist eigentlich pvi_1310.028
mehr, als die Liebe, aber in ihrer Stetigkeit nicht darzustellen, in ihrer pvi_1310.029
Erscheinung prosaisch und so läuft auch diese Seite der gewonnenen Jdealität pvi_1310.030
in zugestandene Prosa aus. Diesen Charakter, die Prosa nicht gründlich pvi_1310.031
brechen zu können, gesteht nun der Roman auch dadurch zu, daß er in pvi_1310.032
gebundener Sprache ganz undenkbar ist und mit bloßem entferntem Anklang pvi_1310.033
des Rhythmischen sich begnügen muß. Allein die Sprachform wird auch pvi_1310.034
zum rückwirkenden Motive, dießmal im schädlichen Sinne, und steigert die pvi_1310.035
Versuchung, die an sich schon in der Dicht-Art liegt, stoffartige Massen pvi_1310.036
von Historischem, Gelehrtem aller Art, unverarbeiteter Weisheit, Tendenziösem, pvi_1310.037
Erbaulichem u. s. w. in das geduldige Gefäß zu schütten.
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§. 881.
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Nach Stoffgebieten eingetheilt nimmt der Roman vorherrschend das pvi_1310.040
Privatleben zu seinem Schauplatz und sucht hier das Poetische entweder in
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