Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1311.001 1. Es folgt aus allem Gesagten, daß der Roman "vorherrschend" d. h. pvi_1311.009 pvi_1311.001 1. Es folgt aus allem Gesagten, daß der Roman „vorherrschend“ d. h. pvi_1311.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0173" n="1311"/><lb n="pvi_1311.001"/> der <hi rendition="#g">aristokratischen</hi> Gesellschaft, sei es im engeren, sei es, um die Erwerbung <lb n="pvi_1311.002"/> schöner Humanität in den bevorzugten Kreisen darzustellen, im weiteren <lb n="pvi_1311.003"/> Sinne des Worts, oder, und zwar in stets erneuter Opposition gegen diese <lb n="pvi_1311.004"/> Form, im <hi rendition="#g">Volke,</hi> oder im gebildeten <hi rendition="#g">Bürgerstande,</hi> vorzüglich in seinem <lb n="pvi_1311.005"/> Familienleben, und diese Gattung nimmt die breiteste Stelle ein. Ueber diese<note place="right">2.</note> <lb n="pvi_1311.006"/> Sphären erhebt sich unvollkommen der <hi rendition="#g">historische</hi> Roman in das politische <lb n="pvi_1311.007"/> Gebiet und der <hi rendition="#g">sociale</hi> zu den großen Fragen über das Wohl der Gesellschaft.</p> <lb n="pvi_1311.008"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Es folgt aus allem Gesagten, daß der Roman „vorherrschend“ d. h. <lb n="pvi_1311.009"/> nicht nur meist, sondern wie sich zeigen wird, auch wo er das Oeffentliche <lb n="pvi_1311.010"/> ergreift, wenigstens mit seinem ganzen Vordergrunde stets im Privatleben <lb n="pvi_1311.011"/> spielt. Natürlich aber ergriff er zuerst dessen glänzendste, am Oeffentlichen <lb n="pvi_1311.012"/> unmittelbar liegende, durch seine Glorie beschienene Seite, das Hofleben. <lb n="pvi_1311.013"/> Der ältere aristokratische Roman, im siebenzehnten Jahrhundert, hauptsächlich <lb n="pvi_1311.014"/> nach Calprenede und Mad. de Scüdery, ausgebildet, war nur scheinbar <lb n="pvi_1311.015"/> ein historischer, ein „Heldenroman.“ Es war in den Herkules, Herkuliskus, <lb n="pvi_1311.016"/> Aramena, Octavia, Arminius von Buchholz, Herzog Anton Ulrich von <lb n="pvi_1311.017"/> Braunschweig, Lohenstein bis zu Ziegler's asiatischer Banise um einen „Hofspiegel“ <lb n="pvi_1311.018"/> und nur im Sinne aufgeklebter Gelehrsamkeit um einen „Weltspiegel“ <lb n="pvi_1311.019"/> zu thun; hinter den historischen Helden stacken Hofleute der Zeit. <lb n="pvi_1311.020"/> Dieß war der nächste Ableger der an die Rittergedichte sich anschließenden <lb n="pvi_1311.021"/> Amadis-Romane; das Aristokratische war zunächst historisch motivirt als <lb n="pvi_1311.022"/> Reminiscenz, Nachwirkung der Romantik, die Dichter selbst waren Adeliche. <lb n="pvi_1311.023"/> Dabei lag als inneres Motiv der Jnstinct zu Grunde, etwas der erhabenen <lb n="pvi_1311.024"/> Thätigkeit der Heroen im ursprünglichen Epos Aehnliches als Stoff zu <lb n="pvi_1311.025"/> ergreifen, und man suchte dieß Aequivalent in der feinsten Bildung und <lb n="pvi_1311.026"/> freiesten Lebensbewegung, wie sie den bevorzugtesten Ständen sich öffnet. <lb n="pvi_1311.027"/> Der aristokratische Roman ist ein verspäteter Versuch dieser Dicht-Art, auf <lb n="pvi_1311.028"/> der Linie des Epos zu bleiben; das Heroische soll als Vornehmes conservirt <lb n="pvi_1311.029"/> erscheinen. Die geistigere, moderne Wendung ist nun die, daß das <lb n="pvi_1311.030"/> Vornehme nicht in die feinste, sondern in die reinste Bildung, in die Blüthe <lb n="pvi_1311.031"/> der Humanität gesetzt wird, aber doch so, daß die Erwerbung derselben an <lb n="pvi_1311.032"/> bevorzugten, der Enge und Sorge des Lebens enthobenen Stand als an <lb n="pvi_1311.033"/> ihre Bedingung geknüpft bleibt. Göthe hat diese Verschmelzung des Bildungsbegriffs <lb n="pvi_1311.034"/> mit dem Adelsbegriffe im Wilh. Meister zwar durch das <lb n="pvi_1311.035"/> Aufsteigen eines Bürgerlichen in die vornehmen Kreise, durch Geltendmachung <lb n="pvi_1311.036"/> der Kunst als eines geistigen Adels, die jedoch im Schauspielerstand auch <lb n="pvi_1311.037"/> ihre ganze Sterblichkeit enthüllt, durch die Mißheirathen am Schluß ironisirt, <lb n="pvi_1311.038"/> aber darum keineswegs aufgehoben, sondern doch in Ton und Jnhalt recht <lb n="pvi_1311.039"/> sanctionirt. Dieses Kunstwerk kann im engeren Sinne des Worts ein <lb n="pvi_1311.040"/> Humanitäts-Roman genannt werden. Die ganze Dicht-Art hat, wie wir </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1311/0173]
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der aristokratischen Gesellschaft, sei es im engeren, sei es, um die Erwerbung pvi_1311.002
schöner Humanität in den bevorzugten Kreisen darzustellen, im weiteren pvi_1311.003
Sinne des Worts, oder, und zwar in stets erneuter Opposition gegen diese pvi_1311.004
Form, im Volke, oder im gebildeten Bürgerstande, vorzüglich in seinem pvi_1311.005
Familienleben, und diese Gattung nimmt die breiteste Stelle ein. Ueber diese pvi_1311.006
Sphären erhebt sich unvollkommen der historische Roman in das politische pvi_1311.007
Gebiet und der sociale zu den großen Fragen über das Wohl der Gesellschaft.
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1. Es folgt aus allem Gesagten, daß der Roman „vorherrschend“ d. h. pvi_1311.009
nicht nur meist, sondern wie sich zeigen wird, auch wo er das Oeffentliche pvi_1311.010
ergreift, wenigstens mit seinem ganzen Vordergrunde stets im Privatleben pvi_1311.011
spielt. Natürlich aber ergriff er zuerst dessen glänzendste, am Oeffentlichen pvi_1311.012
unmittelbar liegende, durch seine Glorie beschienene Seite, das Hofleben. pvi_1311.013
Der ältere aristokratische Roman, im siebenzehnten Jahrhundert, hauptsächlich pvi_1311.014
nach Calprenede und Mad. de Scüdery, ausgebildet, war nur scheinbar pvi_1311.015
ein historischer, ein „Heldenroman.“ Es war in den Herkules, Herkuliskus, pvi_1311.016
Aramena, Octavia, Arminius von Buchholz, Herzog Anton Ulrich von pvi_1311.017
Braunschweig, Lohenstein bis zu Ziegler's asiatischer Banise um einen „Hofspiegel“ pvi_1311.018
und nur im Sinne aufgeklebter Gelehrsamkeit um einen „Weltspiegel“ pvi_1311.019
zu thun; hinter den historischen Helden stacken Hofleute der Zeit. pvi_1311.020
Dieß war der nächste Ableger der an die Rittergedichte sich anschließenden pvi_1311.021
Amadis-Romane; das Aristokratische war zunächst historisch motivirt als pvi_1311.022
Reminiscenz, Nachwirkung der Romantik, die Dichter selbst waren Adeliche. pvi_1311.023
Dabei lag als inneres Motiv der Jnstinct zu Grunde, etwas der erhabenen pvi_1311.024
Thätigkeit der Heroen im ursprünglichen Epos Aehnliches als Stoff zu pvi_1311.025
ergreifen, und man suchte dieß Aequivalent in der feinsten Bildung und pvi_1311.026
freiesten Lebensbewegung, wie sie den bevorzugtesten Ständen sich öffnet. pvi_1311.027
Der aristokratische Roman ist ein verspäteter Versuch dieser Dicht-Art, auf pvi_1311.028
der Linie des Epos zu bleiben; das Heroische soll als Vornehmes conservirt pvi_1311.029
erscheinen. Die geistigere, moderne Wendung ist nun die, daß das pvi_1311.030
Vornehme nicht in die feinste, sondern in die reinste Bildung, in die Blüthe pvi_1311.031
der Humanität gesetzt wird, aber doch so, daß die Erwerbung derselben an pvi_1311.032
bevorzugten, der Enge und Sorge des Lebens enthobenen Stand als an pvi_1311.033
ihre Bedingung geknüpft bleibt. Göthe hat diese Verschmelzung des Bildungsbegriffs pvi_1311.034
mit dem Adelsbegriffe im Wilh. Meister zwar durch das pvi_1311.035
Aufsteigen eines Bürgerlichen in die vornehmen Kreise, durch Geltendmachung pvi_1311.036
der Kunst als eines geistigen Adels, die jedoch im Schauspielerstand auch pvi_1311.037
ihre ganze Sterblichkeit enthüllt, durch die Mißheirathen am Schluß ironisirt, pvi_1311.038
aber darum keineswegs aufgehoben, sondern doch in Ton und Jnhalt recht pvi_1311.039
sanctionirt. Dieses Kunstwerk kann im engeren Sinne des Worts ein pvi_1311.040
Humanitäts-Roman genannt werden. Die ganze Dicht-Art hat, wie wir
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