Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1312.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0174" n="1312"/><lb n="pvi_1312.001"/> gesehen, die Jdee des Heranreifens zur reinen Menschlichkeit zum Jnhalt, <lb n="pvi_1312.002"/> das eigentliche Handeln ist nicht ihre Sphäre. Damit ist aber natürlich <lb n="pvi_1312.003"/> nicht gesagt, daß nicht der Kern der menschlichen Vollendung der Persönlichkeit <lb n="pvi_1312.004"/> in das Ethische, die Charakterbildung, und zwar allerdings auch in <lb n="pvi_1312.005"/> Beziehung auf das nationale, politische Leben zu legen sei, nur daß es bei <lb n="pvi_1312.006"/> der Beziehung bleibt und nicht die That selbst, höchstens eine Aussicht auf <lb n="pvi_1312.007"/> stetiges Wirken in die Fabel eintritt. Göthe's Roman faßt aber im Sinne <lb n="pvi_1312.008"/> seiner Zeit das Humanitätsleben als ein System idealen Selbstgenusses, <lb n="pvi_1312.009"/> worin das eigentlich Active und das Jnteresse für die großen Gegenstände <lb n="pvi_1312.010"/> desselben fehlt; die Schlußwendung zu der Jdee nützlicher Thätigkeit und <lb n="pvi_1312.011"/> der Begriff der Resignation vermag diese Grundlage nicht zu verändern, <lb n="pvi_1312.012"/> fällt vielmehr selbst wieder unter die von ihr ausgehende Beleuchtung. Es <lb n="pvi_1312.013"/> ist dieß ein Mangel an männlichem Marke, der aber in unserem Zusammenhang <lb n="pvi_1312.014"/> als natürlicher Mangel der Spezies zur Sprache kommt. Es <lb n="pvi_1312.015"/> verhält sich ebenso mit dem <hi rendition="#g">Künstler=</hi>Romane, zu welchem der W. Meister <lb n="pvi_1312.016"/> neigt, und den wir zum aristokratischen zählen dürfen. Der allgemeine <lb n="pvi_1312.017"/> Grund, der gegen die Wahl solcher Stoffe aus dem Gebiet idealer Beschäftigung <lb n="pvi_1312.018"/> entscheidet, ist mehrfach und noch so eben von uns ausgesprochen; <lb n="pvi_1312.019"/> in dieser Rückbiegung der Kunst auf sich selbst verräth sich ganz die bedenkliche <lb n="pvi_1312.020"/> Scheue der neueren Zeit vor dem herben Roh-Stoffe des realen Lebens. <lb n="pvi_1312.021"/> Wir wollen jedoch damit nicht schroff absprechen; Künstler, mehr noch Dichter, <lb n="pvi_1312.022"/> Schauspieler können erschütternde Schicksale erleben, die hinreichenden Stoff <lb n="pvi_1312.023"/> für den Mittelpunct einer Roman-Fabel liefern, so daß man das Mißliche <lb n="pvi_1312.024"/> einer Beschäftigung, welche dem Epiker zu wenig Realität darbietet, weniger <lb n="pvi_1312.025"/> fühlen mag; je ernster aber ein solcher Lebensgang erscheint, je ergreifender <lb n="pvi_1312.026"/> die Kämpfe einer künstlerisch idealen Natur mit der Welt, desto bestimmter <lb n="pvi_1312.027"/> tritt ein solcher Roman aus der aristokratischen, fein epicureischen Sphäre <lb n="pvi_1312.028"/> heraus und in die Gattung des bürgerlichen Romans hinüber. Jnnerhalb <lb n="pvi_1312.029"/> der Sphäre, in der wir stehen, ja der Behandlung nach in aller Roman= <lb n="pvi_1312.030"/> Literatur ist Göthe's Roman ein Werk fast unvergleichlicher Vollkommenheit. <lb n="pvi_1312.031"/> Die breiten und vollen Massen des Jnhalts, getränkt mit Lebensweisheit, <lb n="pvi_1312.032"/> erklingen unter der Hand des Künstlers wie in höheren Rhythmen, das <lb n="pvi_1312.033"/> Stoffartige ist rein getilgt und mit ächter Milde, feinem epischem Lächeln <lb n="pvi_1312.034"/> schwebt objectiv der ruhige Geist über der harmonisch geordneten weiten <lb n="pvi_1312.035"/> Welt. – Es war zunächst die innere Unwahrheit des aristokratischen Romans <lb n="pvi_1312.036"/> in seiner ursprünglichen Gestalt, was den Gegensatz herausforderte. <lb n="pvi_1312.037"/> Diese Unwahrheit lag in der kindischen Häufung des Unwahrscheinlichen, <lb n="pvi_1312.038"/> den unglaublichen Thaten der galanten Tapferkeit, den unendlichen abentheuerlichen <lb n="pvi_1312.039"/> Zufällen, die derselbe aus der Ritter-Romantik mit herüberbrachte, <lb n="pvi_1312.040"/> ebenso aber in dem falschen Welt- und Sittenbild überhaupt, der <lb n="pvi_1312.041"/> Unnatur des Umgangtons, dem Hohn auf alle Wahrheit der Erfahrung, </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1312/0174]
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gesehen, die Jdee des Heranreifens zur reinen Menschlichkeit zum Jnhalt, pvi_1312.002
das eigentliche Handeln ist nicht ihre Sphäre. Damit ist aber natürlich pvi_1312.003
nicht gesagt, daß nicht der Kern der menschlichen Vollendung der Persönlichkeit pvi_1312.004
in das Ethische, die Charakterbildung, und zwar allerdings auch in pvi_1312.005
Beziehung auf das nationale, politische Leben zu legen sei, nur daß es bei pvi_1312.006
der Beziehung bleibt und nicht die That selbst, höchstens eine Aussicht auf pvi_1312.007
stetiges Wirken in die Fabel eintritt. Göthe's Roman faßt aber im Sinne pvi_1312.008
seiner Zeit das Humanitätsleben als ein System idealen Selbstgenusses, pvi_1312.009
worin das eigentlich Active und das Jnteresse für die großen Gegenstände pvi_1312.010
desselben fehlt; die Schlußwendung zu der Jdee nützlicher Thätigkeit und pvi_1312.011
der Begriff der Resignation vermag diese Grundlage nicht zu verändern, pvi_1312.012
fällt vielmehr selbst wieder unter die von ihr ausgehende Beleuchtung. Es pvi_1312.013
ist dieß ein Mangel an männlichem Marke, der aber in unserem Zusammenhang pvi_1312.014
als natürlicher Mangel der Spezies zur Sprache kommt. Es pvi_1312.015
verhält sich ebenso mit dem Künstler=Romane, zu welchem der W. Meister pvi_1312.016
neigt, und den wir zum aristokratischen zählen dürfen. Der allgemeine pvi_1312.017
Grund, der gegen die Wahl solcher Stoffe aus dem Gebiet idealer Beschäftigung pvi_1312.018
entscheidet, ist mehrfach und noch so eben von uns ausgesprochen; pvi_1312.019
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Wir wollen jedoch damit nicht schroff absprechen; Künstler, mehr noch Dichter, pvi_1312.022
Schauspieler können erschütternde Schicksale erleben, die hinreichenden Stoff pvi_1312.023
für den Mittelpunct einer Roman-Fabel liefern, so daß man das Mißliche pvi_1312.024
einer Beschäftigung, welche dem Epiker zu wenig Realität darbietet, weniger pvi_1312.025
fühlen mag; je ernster aber ein solcher Lebensgang erscheint, je ergreifender pvi_1312.026
die Kämpfe einer künstlerisch idealen Natur mit der Welt, desto bestimmter pvi_1312.027
tritt ein solcher Roman aus der aristokratischen, fein epicureischen Sphäre pvi_1312.028
heraus und in die Gattung des bürgerlichen Romans hinüber. Jnnerhalb pvi_1312.029
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Literatur ist Göthe's Roman ein Werk fast unvergleichlicher Vollkommenheit. pvi_1312.031
Die breiten und vollen Massen des Jnhalts, getränkt mit Lebensweisheit, pvi_1312.032
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Stoffartige ist rein getilgt und mit ächter Milde, feinem epischem Lächeln pvi_1312.034
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Welt. – Es war zunächst die innere Unwahrheit des aristokratischen Romans pvi_1312.036
in seiner ursprünglichen Gestalt, was den Gegensatz herausforderte. pvi_1312.037
Diese Unwahrheit lag in der kindischen Häufung des Unwahrscheinlichen, pvi_1312.038
den unglaublichen Thaten der galanten Tapferkeit, den unendlichen abentheuerlichen pvi_1312.039
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ebenso aber in dem falschen Welt- und Sittenbild überhaupt, der pvi_1312.041
Unnatur des Umgangtons, dem Hohn auf alle Wahrheit der Erfahrung,
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