Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1313.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0175" n="1313"/><lb n="pvi_1313.001"/> auf welche doch die ganze Dicht-Art, realistisch in ihrem innersten Wesen, <lb n="pvi_1313.002"/> gegründet ist. Der <hi rendition="#g">Volksroman,</hi> der Ableger des Sancho Pansa, begleitet <lb n="pvi_1313.003"/> wirklich den aristokratischen Roman, wie dieser den Don Quixote, <lb n="pvi_1313.004"/> von den spanischen Schelmen- und Räuber-Romanen bis heute, wo er sich <lb n="pvi_1313.005"/> in den Dorfgeschichten eine neue Gestalt gegeben. Räuber, Abentheurer <lb n="pvi_1313.006"/> aller Art, wandernde Musikanten, Studenten, Handwerksbursche, Bediente, <lb n="pvi_1313.007"/> arme Findlinge, die schließlich emporkommen, endlich Bauern: wir dürfen <lb n="pvi_1313.008"/> dieß ganze Personal im Volksromane zusammenfassen, der uns die Welt <lb n="pvi_1313.009"/> kennen lehrt, wie sie ist, wie sie mit rauhem Stoße den jungen Lehrling <lb n="pvi_1313.010"/> enttäuscht und ihm das Schulgeld grob und hart abfordert. Der Styl <lb n="pvi_1313.011"/> geht um so viel naturalistischer in diese Gröbe des Lebens, als der Geist <lb n="pvi_1313.012"/> der Wirklichkeit die ganze Grundlage bildet. Er ist in den frühesten Erscheinungen <lb n="pvi_1313.013"/> noch ein Stück ächten Volkstons, namentlich in dem trefflichen <lb n="pvi_1313.014"/> Simplicissimus, auch in den „wahrhaftigen Gesichten Philander's von Sittewald,“ <lb n="pvi_1313.015"/> die zwar didaktisch sind, aber so viel ächt Episches enthalten: <lb n="pvi_1313.016"/> Werken, durch welche der Geist der Enttäuschung und Erfahrung, der Erkenntniß <lb n="pvi_1313.017"/> der Argheit und „Hypokrisie“ der Welt, der über das sechszehnte <lb n="pvi_1313.018"/> und siebenzehnte Jahrhundert kam, mit so scharfer Schneide geht. Wir können <lb n="pvi_1313.019"/> auch die Robinsonaden nach der einen Seite in unsern Zusammenhang ziehen, <lb n="pvi_1313.020"/> als Ausdruck einer Stimmung, welche die übersatte und üppige Cultur <lb n="pvi_1313.021"/> erfrischen wollte, indem sie ihr zeigte, wie schwer und interessant ihre Anfänge <lb n="pvi_1313.022"/> sind: sie sollte wieder Natur-Reiz erhalten durch das Bild eines <lb n="pvi_1313.023"/> Schiffbrüchigen, der von allen ihren Vortheilen getrennt ist und von vorn <lb n="pvi_1313.024"/> beginnen muß. Diese Classe steht aber zugleich in einem größern, bedeutenderen <lb n="pvi_1313.025"/> Zusammenhang und weist merkwürdig auf die Jdeen-Strömung hin, <lb n="pvi_1313.026"/> die mit Rousseau ihren stärkeren Lauf anhob; sie verkündigt einfache, naturgemäße, <lb n="pvi_1313.027"/> freie Staats- und Gesellschafts-Bildung. – Die <hi rendition="#g">Dorfgeschichten</hi> <lb n="pvi_1313.028"/> der neueren Zeit gehören ihrem beschränkten Umfange nach eigentlich in die <lb n="pvi_1313.029"/> Geschichte der Jdylle und sind bei der modernen Form derselben noch einmal <lb n="pvi_1313.030"/> aufzunehmen; doch ist nicht zu übersehen, daß diese selbst an dem hier <lb n="pvi_1313.031"/> vorliegenden Gegensatze Theil hat, indem das falsche Bild des Jdyllischen <lb n="pvi_1313.032"/> in der bekannten Form des Schäferwesens von der höfisch aristokratischen <lb n="pvi_1313.033"/> Dichtung ausgeht, das denn auch im eigentlichen Romane dieses Geschmacks <lb n="pvi_1313.034"/> einen starken Einschlag bildet. Die Dorfgeschichte gibt dagegen wahre Landleute, <lb n="pvi_1313.035"/> enthüllt die Härten, die Uebel des Bauernlebens, hält es nicht schlechthin <lb n="pvi_1313.036"/> abgeschlossen von der verderblichen Berührung mit der raffinirten Cultur, <lb n="pvi_1313.037"/> und doch rettet sie zugleich die Einfalt, die Schönheit des Heimlichen und <lb n="pvi_1313.038"/> Beschränkten. So gehört sie in den Zug der Opposition gegen die aristokratische <lb n="pvi_1313.039"/> Romanliteratur. – Der <hi rendition="#g">bürgerliche</hi> Roman dagegen ist die <lb n="pvi_1313.040"/> eigentlich normale Spezies. Er vereinigt das Wahre des aristokratischen <lb n="pvi_1313.041"/> und des Volksromans, denn er führt uns in die mittlere Schichte der Gesellschaft, </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1313/0175]
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auf welche doch die ganze Dicht-Art, realistisch in ihrem innersten Wesen, pvi_1313.002
gegründet ist. Der Volksroman, der Ableger des Sancho Pansa, begleitet pvi_1313.003
wirklich den aristokratischen Roman, wie dieser den Don Quixote, pvi_1313.004
von den spanischen Schelmen- und Räuber-Romanen bis heute, wo er sich pvi_1313.005
in den Dorfgeschichten eine neue Gestalt gegeben. Räuber, Abentheurer pvi_1313.006
aller Art, wandernde Musikanten, Studenten, Handwerksbursche, Bediente, pvi_1313.007
arme Findlinge, die schließlich emporkommen, endlich Bauern: wir dürfen pvi_1313.008
dieß ganze Personal im Volksromane zusammenfassen, der uns die Welt pvi_1313.009
kennen lehrt, wie sie ist, wie sie mit rauhem Stoße den jungen Lehrling pvi_1313.010
enttäuscht und ihm das Schulgeld grob und hart abfordert. Der Styl pvi_1313.011
geht um so viel naturalistischer in diese Gröbe des Lebens, als der Geist pvi_1313.012
der Wirklichkeit die ganze Grundlage bildet. Er ist in den frühesten Erscheinungen pvi_1313.013
noch ein Stück ächten Volkstons, namentlich in dem trefflichen pvi_1313.014
Simplicissimus, auch in den „wahrhaftigen Gesichten Philander's von Sittewald,“ pvi_1313.015
die zwar didaktisch sind, aber so viel ächt Episches enthalten: pvi_1313.016
Werken, durch welche der Geist der Enttäuschung und Erfahrung, der Erkenntniß pvi_1313.017
der Argheit und „Hypokrisie“ der Welt, der über das sechszehnte pvi_1313.018
und siebenzehnte Jahrhundert kam, mit so scharfer Schneide geht. Wir können pvi_1313.019
auch die Robinsonaden nach der einen Seite in unsern Zusammenhang ziehen, pvi_1313.020
als Ausdruck einer Stimmung, welche die übersatte und üppige Cultur pvi_1313.021
erfrischen wollte, indem sie ihr zeigte, wie schwer und interessant ihre Anfänge pvi_1313.022
sind: sie sollte wieder Natur-Reiz erhalten durch das Bild eines pvi_1313.023
Schiffbrüchigen, der von allen ihren Vortheilen getrennt ist und von vorn pvi_1313.024
beginnen muß. Diese Classe steht aber zugleich in einem größern, bedeutenderen pvi_1313.025
Zusammenhang und weist merkwürdig auf die Jdeen-Strömung hin, pvi_1313.026
die mit Rousseau ihren stärkeren Lauf anhob; sie verkündigt einfache, naturgemäße, pvi_1313.027
freie Staats- und Gesellschafts-Bildung. – Die Dorfgeschichten pvi_1313.028
der neueren Zeit gehören ihrem beschränkten Umfange nach eigentlich in die pvi_1313.029
Geschichte der Jdylle und sind bei der modernen Form derselben noch einmal pvi_1313.030
aufzunehmen; doch ist nicht zu übersehen, daß diese selbst an dem hier pvi_1313.031
vorliegenden Gegensatze Theil hat, indem das falsche Bild des Jdyllischen pvi_1313.032
in der bekannten Form des Schäferwesens von der höfisch aristokratischen pvi_1313.033
Dichtung ausgeht, das denn auch im eigentlichen Romane dieses Geschmacks pvi_1313.034
einen starken Einschlag bildet. Die Dorfgeschichte gibt dagegen wahre Landleute, pvi_1313.035
enthüllt die Härten, die Uebel des Bauernlebens, hält es nicht schlechthin pvi_1313.036
abgeschlossen von der verderblichen Berührung mit der raffinirten Cultur, pvi_1313.037
und doch rettet sie zugleich die Einfalt, die Schönheit des Heimlichen und pvi_1313.038
Beschränkten. So gehört sie in den Zug der Opposition gegen die aristokratische pvi_1313.039
Romanliteratur. – Der bürgerliche Roman dagegen ist die pvi_1313.040
eigentlich normale Spezies. Er vereinigt das Wahre des aristokratischen pvi_1313.041
und des Volksromans, denn er führt uns in die mittlere Schichte der Gesellschaft,
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