Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1381.001 §. 897. pvi_1381.026Die Welt, wie sie in dieser Auffassung erscheint, ist wesentlich ganz von pvi_1381.027 Wir verweisen auf den angeführten §.; was dort von der Dichtkunst pvi_1381.038
pvi_1381.001 §. 897. pvi_1381.026Die Welt, wie sie in dieser Auffassung erscheint, ist wesentlich ganz von pvi_1381.027 Wir verweisen auf den angeführten §.; was dort von der Dichtkunst pvi_1381.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0243" n="1381"/><lb n="pvi_1381.001"/> der modernen Zeit ist aber ein Kind der Reformation und des Humanismus, <lb n="pvi_1381.002"/> der erneuten Wissenschaft, also des Bruchs mit der mittelalterlichen Bindung <lb n="pvi_1381.003"/> der Geister und des gedankenklaren Blicks geprüfter und enttäuschter Menschen <lb n="pvi_1381.004"/> in die Wirklichkeit. Shakespeare, der Protestant, der Sohn jenes <lb n="pvi_1381.005"/> unendlich lebendigen Jahrhunderts, dem die breite Binde von den Augen <lb n="pvi_1381.006"/> gefallen war, ist der „Homer des Drama“ (Gervinus, Shakespeare B. 4, <lb n="pvi_1381.007"/> S. 341). Die Blüthe dieser Kunstform im strengkatholischen und despotischen <lb n="pvi_1381.008"/> Spanien war nicht möglich, wenn nicht der Welt ringsumher die <lb n="pvi_1381.009"/> neue, freie Bildung wäre aufgegangen gewesen, der Kern der Weltauffassung <lb n="pvi_1381.010"/> im spanischen Drama ist aber gerade so weit nicht wahrhaft dramatisch, als <lb n="pvi_1381.011"/> dieselbe ihn nicht durchdringen konnte: er begründet den typisch gegebenen <lb n="pvi_1381.012"/> Rahmen von Motiven, die nicht aus der wahren und allgemeinen Menschen=Natur <lb n="pvi_1381.013"/> erwachsen. Wir haben diese Verhältnisse schon in der Geschichte <lb n="pvi_1381.014"/> der Phantasie berührt, vergl. §. 472. 475. Die Franzosen haben in der <lb n="pvi_1381.015"/> Beweglichkeit und kritischen Schärfe ihres Geistes immer ein Analogon des <lb n="pvi_1381.016"/> Protestantismus gehabt. Was aber ihrem Drama fehlt, hängt doch mit <lb n="pvi_1381.017"/> der schematisch unlebendigen Auffassung des innern Menschen zusammen, <lb n="pvi_1381.018"/> die ihren Grund im romanisch Katholischen hat. Den ganzen und vollen <lb n="pvi_1381.019"/> Beruf zu dieser Gattung hat die eigentlich moderne Zeit und der germanische <lb n="pvi_1381.020"/> Geist. Die großen classischen Dichter unserer deutschen Nation sind <lb n="pvi_1381.021"/> in diesen Beruf eingetreten, freilich ohne Shakespeare's unbedingtes dramatisches <lb n="pvi_1381.022"/> Genie und ohne den Styl zu erreichen, den wir als nächstes Ziel <lb n="pvi_1381.023"/> der bisherigen Geschichte des Drama erkennen werden, und ohne in der <lb n="pvi_1381.024"/> Komödie es den neuern Franzosen und Engländern gleichzuthun.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1381.025"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 897.</hi> </p> <lb n="pvi_1381.026"/> <p> Die <hi rendition="#g">Welt,</hi> wie sie in dieser Auffassung erscheint, ist wesentlich ganz von <lb n="pvi_1381.027"/> <hi rendition="#g">innen heraus</hi> bestimmt, Alles fließt aus dem Jnnern und führt in es zurück; <lb n="pvi_1381.028"/> es wird also vollkommener, als in den andern Zweigen, erfüllt, was nach §. 842, 1. <lb n="pvi_1381.029"/> im Wesen der Dichtkunst liegt. Die Bestimmtheit dieses Jnnern als bewußter <lb n="pvi_1381.030"/> Wille bringt ein entschiedenes Hervortreten des Gedankenhaften, des gnomischen <lb n="pvi_1381.031"/> Elements, mit sich (vergl. §. 842, 2.). Der Wille setzt sich seinen <hi rendition="#g">Zweck</hi> und <lb n="pvi_1381.032"/> vollführt ihn. Die Breite des <hi rendition="#g">Aeußerlichen</hi> zieht sich durch die Rückführung <lb n="pvi_1381.033"/> auf den alle Masse allein bewegenden Zweck in einen engen, nur andeutenden <lb n="pvi_1381.034"/> Auszug zusammen; bestimmend wirkt es auf den Willen nur, sofern es zum <lb n="pvi_1381.035"/> Motiv erhoben wird. Jn diesem durchaus straffen Weltbilde gibt es daher <lb n="pvi_1381.036"/> keinen <hi rendition="#g">Zufall.</hi></p> <lb n="pvi_1381.037"/> <p> <hi rendition="#et"> Wir verweisen auf den angeführten §.; was dort von der Dichtkunst <lb n="pvi_1381.038"/> überhaupt gesagt ist, das wird in derjenigen ihrer Formen zur vollen Wahrheit, </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1381/0243]
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der modernen Zeit ist aber ein Kind der Reformation und des Humanismus, pvi_1381.002
der erneuten Wissenschaft, also des Bruchs mit der mittelalterlichen Bindung pvi_1381.003
der Geister und des gedankenklaren Blicks geprüfter und enttäuschter Menschen pvi_1381.004
in die Wirklichkeit. Shakespeare, der Protestant, der Sohn jenes pvi_1381.005
unendlich lebendigen Jahrhunderts, dem die breite Binde von den Augen pvi_1381.006
gefallen war, ist der „Homer des Drama“ (Gervinus, Shakespeare B. 4, pvi_1381.007
S. 341). Die Blüthe dieser Kunstform im strengkatholischen und despotischen pvi_1381.008
Spanien war nicht möglich, wenn nicht der Welt ringsumher die pvi_1381.009
neue, freie Bildung wäre aufgegangen gewesen, der Kern der Weltauffassung pvi_1381.010
im spanischen Drama ist aber gerade so weit nicht wahrhaft dramatisch, als pvi_1381.011
dieselbe ihn nicht durchdringen konnte: er begründet den typisch gegebenen pvi_1381.012
Rahmen von Motiven, die nicht aus der wahren und allgemeinen Menschen=Natur pvi_1381.013
erwachsen. Wir haben diese Verhältnisse schon in der Geschichte pvi_1381.014
der Phantasie berührt, vergl. §. 472. 475. Die Franzosen haben in der pvi_1381.015
Beweglichkeit und kritischen Schärfe ihres Geistes immer ein Analogon des pvi_1381.016
Protestantismus gehabt. Was aber ihrem Drama fehlt, hängt doch mit pvi_1381.017
der schematisch unlebendigen Auffassung des innern Menschen zusammen, pvi_1381.018
die ihren Grund im romanisch Katholischen hat. Den ganzen und vollen pvi_1381.019
Beruf zu dieser Gattung hat die eigentlich moderne Zeit und der germanische pvi_1381.020
Geist. Die großen classischen Dichter unserer deutschen Nation sind pvi_1381.021
in diesen Beruf eingetreten, freilich ohne Shakespeare's unbedingtes dramatisches pvi_1381.022
Genie und ohne den Styl zu erreichen, den wir als nächstes Ziel pvi_1381.023
der bisherigen Geschichte des Drama erkennen werden, und ohne in der pvi_1381.024
Komödie es den neuern Franzosen und Engländern gleichzuthun.
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§. 897.
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Die Welt, wie sie in dieser Auffassung erscheint, ist wesentlich ganz von pvi_1381.027
innen heraus bestimmt, Alles fließt aus dem Jnnern und führt in es zurück; pvi_1381.028
es wird also vollkommener, als in den andern Zweigen, erfüllt, was nach §. 842, 1. pvi_1381.029
im Wesen der Dichtkunst liegt. Die Bestimmtheit dieses Jnnern als bewußter pvi_1381.030
Wille bringt ein entschiedenes Hervortreten des Gedankenhaften, des gnomischen pvi_1381.031
Elements, mit sich (vergl. §. 842, 2.). Der Wille setzt sich seinen Zweck und pvi_1381.032
vollführt ihn. Die Breite des Aeußerlichen zieht sich durch die Rückführung pvi_1381.033
auf den alle Masse allein bewegenden Zweck in einen engen, nur andeutenden pvi_1381.034
Auszug zusammen; bestimmend wirkt es auf den Willen nur, sofern es zum pvi_1381.035
Motiv erhoben wird. Jn diesem durchaus straffen Weltbilde gibt es daher pvi_1381.036
keinen Zufall.
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Wir verweisen auf den angeführten §.; was dort von der Dichtkunst pvi_1381.038
überhaupt gesagt ist, das wird in derjenigen ihrer Formen zur vollen Wahrheit,
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