Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1384.001
pvi_1384.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0246" n="1384"/><lb n="pvi_1384.001"/> besonderen Seiten können und sollen nicht zu der wirklichen Entfaltung <lb n="pvi_1384.002"/> kommen, wie im Epos, sondern durch ihre Verschlingung abgekürzt auf das <lb n="pvi_1384.003"/> Eine Ziel losdrängen. Diese Jneinanderarbeitung des bestimmenden Pathos <lb n="pvi_1384.004"/> und der reichen Persönlichkeit tritt in's stärkste Licht, wenn jenes einen <lb n="pvi_1384.005"/> Charakter ergreift, der ihm ursprünglich widerstrebt, wenn seine Natur und die <lb n="pvi_1384.006"/> Leidenschaft einander nur schwer und langsam annehmen, wie Othello's argloses, <lb n="pvi_1384.007"/> großes Herz und das Gift des Argwohns. Wenn dann endlich das <lb n="pvi_1384.008"/> Amalgam vollendet ist, erscheint der ganze Charakter in um so tieferem und <lb n="pvi_1384.009"/> gewaltsamerem Aufruhr. Es ist dieß der Fall, wo derselbe im Drama eine <lb n="pvi_1384.010"/> solche Wendung nimmt, daß seine Kräfte um ein neues Centrum sich vereinigen; <lb n="pvi_1384.011"/> von dieser stärksten Form des Umschlags eines Charakters ist wohl zu <lb n="pvi_1384.012"/> unterscheiden eine andere, wo er innerhalb seines ursprünglichen Centrums und <lb n="pvi_1384.013"/> natürlichen Pathos durch Schicksalserfahrungen zu einer Krise gesteigert wird, <lb n="pvi_1384.014"/> die seine ganze Stimmung, seinen Zustand verändert, wie z. B. König Lear. <lb n="pvi_1384.015"/> Ein mittlerer Fall ist der, wenn der Keim zu einem Umschlag, welcher <lb n="pvi_1384.016"/> das anfängliche Bild des Charakters aus den Fugen treibt, in diesem schon <lb n="pvi_1384.017"/> vorher tiefer angelegt war, als es schien, wie im Makbeth, dem ungleichen <lb n="pvi_1384.018"/> tragischen Bruder Richard's <hi rendition="#aq">III</hi>, der als reifer, hart geschmiedeter Bösewicht <lb n="pvi_1384.019"/> von Anfang an auftritt. Hamlet, der in dem fortgehenden Kampfe mit <lb n="pvi_1384.020"/> einem Pathos, das den Anspruch macht, sich seiner ganz zu bemächtigen, <lb n="pvi_1384.021"/> sich doch wesentlich gleich bleibt, steht fast einzig in der Geschichte der Tragödie. <lb n="pvi_1384.022"/> Die einfachste Form der Steigerung im ursprünglichen Centrum ist <lb n="pvi_1384.023"/> das Anwachsen zum höchsten Pathos der Liebe; es setzt jugendliche Naturen <lb n="pvi_1384.024"/> voraus, die nicht vorher schon zu markirter Reife gelangt sind, wie Romeo. <lb n="pvi_1384.025"/> Ein anderer Theil der dramatischen Charaktere bringt dagegen völlig reife <lb n="pvi_1384.026"/> Gestalt nicht nur sogleich mit, sondern verharrt auch darin, so daß seine <lb n="pvi_1384.027"/> Handlungen einfach aus der gegebenen festen Bestimmtheit hervorgehen. <lb n="pvi_1384.028"/> Soll dieß aber von der Hauptperson gelten, so muß doch die That, die <lb n="pvi_1384.029"/> zur Katastrophe führt, mit einer Aufregung, Aufwühlung verbunden sein, <lb n="pvi_1384.030"/> die annähernd als eine Veränderung des Charakters bezeichnet werden kann, <lb n="pvi_1384.031"/> wie bei Wallenstein, da ihn der Ehrgeiz zum Verrathe führt. – Der Zweck, <lb n="pvi_1384.032"/> welcher der Hebel der dramatischen Handlung ist, setzt den Gegenzweck voraus, <lb n="pvi_1384.033"/> beide legen sich in ihre Momente auseinander und dieß natürlich eben in <lb n="pvi_1384.034"/> der lebendigen Form von Charakteren. Man vergleiche z. B. Schiller's <lb n="pvi_1384.035"/> Wilhelm Tell. Die Jdee der nationalen Freiheit tritt in die Momente der <lb n="pvi_1384.036"/> entscheidenden Thatkraft, der jugendlichen Leidenschaft, der berathenden männlichen <lb n="pvi_1384.037"/> Klugheit auseinander: das erste in Tell, das zweite in Melchthal, <lb n="pvi_1384.038"/> das dritte in Stauffacher, W. Fürst und einer Anzahl weniger bestimmt <lb n="pvi_1384.039"/> hervortretender Personen; Jäger, Hirten, Fischer, Landleute, ihre Klagen <lb n="pvi_1384.040"/> und Leiden sind nothwendig, den Gesammtzustand zur Darstellung zu bringen. <lb n="pvi_1384.041"/> Weiblicher Heroismus, in mildem Contraste dem stilleren Familiensinne </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1384/0246]
pvi_1384.001
besonderen Seiten können und sollen nicht zu der wirklichen Entfaltung pvi_1384.002
kommen, wie im Epos, sondern durch ihre Verschlingung abgekürzt auf das pvi_1384.003
Eine Ziel losdrängen. Diese Jneinanderarbeitung des bestimmenden Pathos pvi_1384.004
und der reichen Persönlichkeit tritt in's stärkste Licht, wenn jenes einen pvi_1384.005
Charakter ergreift, der ihm ursprünglich widerstrebt, wenn seine Natur und die pvi_1384.006
Leidenschaft einander nur schwer und langsam annehmen, wie Othello's argloses, pvi_1384.007
großes Herz und das Gift des Argwohns. Wenn dann endlich das pvi_1384.008
Amalgam vollendet ist, erscheint der ganze Charakter in um so tieferem und pvi_1384.009
gewaltsamerem Aufruhr. Es ist dieß der Fall, wo derselbe im Drama eine pvi_1384.010
solche Wendung nimmt, daß seine Kräfte um ein neues Centrum sich vereinigen; pvi_1384.011
von dieser stärksten Form des Umschlags eines Charakters ist wohl zu pvi_1384.012
unterscheiden eine andere, wo er innerhalb seines ursprünglichen Centrums und pvi_1384.013
natürlichen Pathos durch Schicksalserfahrungen zu einer Krise gesteigert wird, pvi_1384.014
die seine ganze Stimmung, seinen Zustand verändert, wie z. B. König Lear. pvi_1384.015
Ein mittlerer Fall ist der, wenn der Keim zu einem Umschlag, welcher pvi_1384.016
das anfängliche Bild des Charakters aus den Fugen treibt, in diesem schon pvi_1384.017
vorher tiefer angelegt war, als es schien, wie im Makbeth, dem ungleichen pvi_1384.018
tragischen Bruder Richard's III, der als reifer, hart geschmiedeter Bösewicht pvi_1384.019
von Anfang an auftritt. Hamlet, der in dem fortgehenden Kampfe mit pvi_1384.020
einem Pathos, das den Anspruch macht, sich seiner ganz zu bemächtigen, pvi_1384.021
sich doch wesentlich gleich bleibt, steht fast einzig in der Geschichte der Tragödie. pvi_1384.022
Die einfachste Form der Steigerung im ursprünglichen Centrum ist pvi_1384.023
das Anwachsen zum höchsten Pathos der Liebe; es setzt jugendliche Naturen pvi_1384.024
voraus, die nicht vorher schon zu markirter Reife gelangt sind, wie Romeo. pvi_1384.025
Ein anderer Theil der dramatischen Charaktere bringt dagegen völlig reife pvi_1384.026
Gestalt nicht nur sogleich mit, sondern verharrt auch darin, so daß seine pvi_1384.027
Handlungen einfach aus der gegebenen festen Bestimmtheit hervorgehen. pvi_1384.028
Soll dieß aber von der Hauptperson gelten, so muß doch die That, die pvi_1384.029
zur Katastrophe führt, mit einer Aufregung, Aufwühlung verbunden sein, pvi_1384.030
die annähernd als eine Veränderung des Charakters bezeichnet werden kann, pvi_1384.031
wie bei Wallenstein, da ihn der Ehrgeiz zum Verrathe führt. – Der Zweck, pvi_1384.032
welcher der Hebel der dramatischen Handlung ist, setzt den Gegenzweck voraus, pvi_1384.033
beide legen sich in ihre Momente auseinander und dieß natürlich eben in pvi_1384.034
der lebendigen Form von Charakteren. Man vergleiche z. B. Schiller's pvi_1384.035
Wilhelm Tell. Die Jdee der nationalen Freiheit tritt in die Momente der pvi_1384.036
entscheidenden Thatkraft, der jugendlichen Leidenschaft, der berathenden männlichen pvi_1384.037
Klugheit auseinander: das erste in Tell, das zweite in Melchthal, pvi_1384.038
das dritte in Stauffacher, W. Fürst und einer Anzahl weniger bestimmt pvi_1384.039
hervortretender Personen; Jäger, Hirten, Fischer, Landleute, ihre Klagen pvi_1384.040
und Leiden sind nothwendig, den Gesammtzustand zur Darstellung zu bringen. pvi_1384.041
Weiblicher Heroismus, in mildem Contraste dem stilleren Familiensinne
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |