Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1407.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0269" n="1407"/><lb n="pvi_1407.001"/> sich historisch im Großen ausspricht, an den Anfang der hier aufzuführenden <lb n="pvi_1407.002"/> Unterscheidungen zu stellen. Es liegt aber darin keine logische Störung, <lb n="pvi_1407.003"/> weil das Geschichtliche alsbald die Bedeutung gewinnt, in den Charakter <lb n="pvi_1407.004"/> der Dichtungsart, wie er an sich und abgesehen von der zeitlichen Entwicklung <lb n="pvi_1407.005"/> besteht, so einzugreifen, daß bleibende Gegensätze sich bilden. – Dem <lb n="pvi_1407.006"/> Orientalischen können wir dießmal nur noch die kurze Bemerkung widmen, <lb n="pvi_1407.007"/> daß die einzige dramatische Erscheinung in einer begreiflichermaßen undramatischen <lb n="pvi_1407.008"/> Form des Phantasielebens, das <hi rendition="#g">indische</hi> Drama, seinen höchsten <lb n="pvi_1407.009"/> Werth in dem hat, was eigentlich lyrischer Natur ist, in der Schönheit <lb n="pvi_1407.010"/> und Anmuth der Liebe, und daß es an dramatisch wirksamen Momenten in <lb n="pvi_1407.011"/> der Handlung zwar nicht fehlt, daß aber das Spezifische der Kunstgattung <lb n="pvi_1407.012"/> durch die immer wieder einbrechenden phantastischen, allgemein menschlicher <lb n="pvi_1407.013"/> Wahrheit entbehrenden Motive und Entrückungen auf transcendenten Boden <lb n="pvi_1407.014"/> durchbrochen wird. – Behalten wir nun das <hi rendition="#g">Griechische</hi> und ihm gegenüber <lb n="pvi_1407.015"/> das Moderne im Auge, so sehen wir sogleich ein ganz anderes Verhältniß, <lb n="pvi_1407.016"/> als im epischen Gebiete. Dort hatte alles Nach-Homerische einen <lb n="pvi_1407.017"/> zweifelhaften Charakter; einen reinen Gegensatz gegen das ächte Epos bildete <lb n="pvi_1407.018"/> nur der Roman und es wurde doch von ihm behauptet, er sei das Wert <lb n="pvi_1407.019"/> eines berechtigten, entgegengesetzten Styls, der aber seine wahre Bestimmung <lb n="pvi_1407.020"/> in einem andern Gebiet haben müsse. Dieß Gebiet ist eben das dramatische. <lb n="pvi_1407.021"/> Hier ist so entschieden der wahre Boden des modernen, charakteristischen, <lb n="pvi_1407.022"/> als im Epos der des direct idealen Styls, und es ist Zeit, daß man sich <lb n="pvi_1407.023"/> die großen, tiefen Mängel gestehe, an denen das griechische Drama leidet, <lb n="pvi_1407.024"/> wenn es streng an den Maaßstab des Spezifischen der Dichtungsart gehalten <lb n="pvi_1407.025"/> wird. Keineswegs aber dreht sich nun das Verhältniß so um, daß von <lb n="pvi_1407.026"/> dem griechischen Drama ebenso bestimmte Zweifelhaftigkeit des Werthes <lb n="pvi_1407.027"/> ausgesagt werden müßte, als von den epischen Erscheinungen nach Homer. <lb n="pvi_1407.028"/> Die Griechen haben die große Genialität gehabt, im tiefen Widerspruch <lb n="pvi_1407.029"/> mit den Grundlagen ihrer Weltanschauung, die wesentlich episch waren, <lb n="pvi_1407.030"/> doch das Drama in der Poesie zu schaffen, wie sie im Staatsleben zur <lb n="pvi_1407.031"/> Freiheit fortschritten. Umringt und gebunden von einer Götterwelt, die <lb n="pvi_1407.032"/> bei den Völkern des Orients, woher sie gewandert, Ausdruck und Ausfluß <lb n="pvi_1407.033"/> eines verhüllten und willenlosen Lebens war, erwachten sie doch zum Bewußtsein, <lb n="pvi_1407.034"/> zu der That, zu der Entscheidung, liehen ihren Göttern die <lb n="pvi_1407.035"/> erwachte Seele, machten sie zu Vertretern des freien Menschen und konnten <lb n="pvi_1407.036"/> so mit und unter ihnen frei sein. Ein Volk von Bildhauern, belebten sie <lb n="pvi_1407.037"/> doch die stille Statue, warfen die Trennung in die stille Harmonie des Geistes <lb n="pvi_1407.038"/> und der Sinne, den Blitz des wollenden Blickes in ihr lichtloses Auge und <lb n="pvi_1407.039"/> versetzten sie wandelnd, handelnd auf die Bühne. Der homerische Held <lb n="pvi_1407.040"/> entwuchs dem Gängelbande der Gottheit, des Jnstinctes, des Affectes, der <lb n="pvi_1407.041"/> wahllos über ihn kam, und lernte eine straffe Entscheidung aus sich selbst </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1407/0269]
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sich historisch im Großen ausspricht, an den Anfang der hier aufzuführenden pvi_1407.002
Unterscheidungen zu stellen. Es liegt aber darin keine logische Störung, pvi_1407.003
weil das Geschichtliche alsbald die Bedeutung gewinnt, in den Charakter pvi_1407.004
der Dichtungsart, wie er an sich und abgesehen von der zeitlichen Entwicklung pvi_1407.005
besteht, so einzugreifen, daß bleibende Gegensätze sich bilden. – Dem pvi_1407.006
Orientalischen können wir dießmal nur noch die kurze Bemerkung widmen, pvi_1407.007
daß die einzige dramatische Erscheinung in einer begreiflichermaßen undramatischen pvi_1407.008
Form des Phantasielebens, das indische Drama, seinen höchsten pvi_1407.009
Werth in dem hat, was eigentlich lyrischer Natur ist, in der Schönheit pvi_1407.010
und Anmuth der Liebe, und daß es an dramatisch wirksamen Momenten in pvi_1407.011
der Handlung zwar nicht fehlt, daß aber das Spezifische der Kunstgattung pvi_1407.012
durch die immer wieder einbrechenden phantastischen, allgemein menschlicher pvi_1407.013
Wahrheit entbehrenden Motive und Entrückungen auf transcendenten Boden pvi_1407.014
durchbrochen wird. – Behalten wir nun das Griechische und ihm gegenüber pvi_1407.015
das Moderne im Auge, so sehen wir sogleich ein ganz anderes Verhältniß, pvi_1407.016
als im epischen Gebiete. Dort hatte alles Nach-Homerische einen pvi_1407.017
zweifelhaften Charakter; einen reinen Gegensatz gegen das ächte Epos bildete pvi_1407.018
nur der Roman und es wurde doch von ihm behauptet, er sei das Wert pvi_1407.019
eines berechtigten, entgegengesetzten Styls, der aber seine wahre Bestimmung pvi_1407.020
in einem andern Gebiet haben müsse. Dieß Gebiet ist eben das dramatische. pvi_1407.021
Hier ist so entschieden der wahre Boden des modernen, charakteristischen, pvi_1407.022
als im Epos der des direct idealen Styls, und es ist Zeit, daß man sich pvi_1407.023
die großen, tiefen Mängel gestehe, an denen das griechische Drama leidet, pvi_1407.024
wenn es streng an den Maaßstab des Spezifischen der Dichtungsart gehalten pvi_1407.025
wird. Keineswegs aber dreht sich nun das Verhältniß so um, daß von pvi_1407.026
dem griechischen Drama ebenso bestimmte Zweifelhaftigkeit des Werthes pvi_1407.027
ausgesagt werden müßte, als von den epischen Erscheinungen nach Homer. pvi_1407.028
Die Griechen haben die große Genialität gehabt, im tiefen Widerspruch pvi_1407.029
mit den Grundlagen ihrer Weltanschauung, die wesentlich episch waren, pvi_1407.030
doch das Drama in der Poesie zu schaffen, wie sie im Staatsleben zur pvi_1407.031
Freiheit fortschritten. Umringt und gebunden von einer Götterwelt, die pvi_1407.032
bei den Völkern des Orients, woher sie gewandert, Ausdruck und Ausfluß pvi_1407.033
eines verhüllten und willenlosen Lebens war, erwachten sie doch zum Bewußtsein, pvi_1407.034
zu der That, zu der Entscheidung, liehen ihren Göttern die pvi_1407.035
erwachte Seele, machten sie zu Vertretern des freien Menschen und konnten pvi_1407.036
so mit und unter ihnen frei sein. Ein Volk von Bildhauern, belebten sie pvi_1407.037
doch die stille Statue, warfen die Trennung in die stille Harmonie des Geistes pvi_1407.038
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versetzten sie wandelnd, handelnd auf die Bühne. Der homerische Held pvi_1407.040
entwuchs dem Gängelbande der Gottheit, des Jnstinctes, des Affectes, der pvi_1407.041
wahllos über ihn kam, und lernte eine straffe Entscheidung aus sich selbst
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