Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1415.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0277" n="1415"/><lb n="pvi_1415.001"/> daß mythische Motive im Fortgange sich in naturgemäße Wahrheit aufheben; <lb n="pvi_1415.002"/> der Mensch ist also auf sich, auf die eigenen Füße gestellt, seine Loose fallen <lb n="pvi_1415.003"/> in seinem eignen Jnnern, das Schicksal erzeugt sich aus der Freiheit. „Das <lb n="pvi_1415.004"/> Schicksal oder, welches einerlei ist, die entschiedene Natur des Menschen, <lb n="pvi_1415.005"/> die ihn blind da oder dorthin führt“, sagt Göthe (Briefw. mit Schiller <lb n="pvi_1415.006"/> Th. 3, S. 84). Es fehlt in dieser Bezeichnung der immanenten modernen <lb n="pvi_1415.007"/> Schicksals-Jdee eine Reihe vermittelnder Begriffe, die nach unserer Lehre <lb n="pvi_1415.008"/> vom Tragischen keiner weiteren Auseinandersetzung bedürfen, sie ist aber <lb n="pvi_1415.009"/> dennoch schlagend und treffend. Der Charakter nun erkauft sich in dieser <lb n="pvi_1415.010"/> Auffassung das Recht, mit dem weiteren Umfang seiner Eigenheiten und <lb n="pvi_1415.011"/> Härten, mit seiner unregelmäßigeren, zerfurchteren Gestalt in die Poesie <lb n="pvi_1415.012"/> einzutreten, durch das Uebergewicht des Ausdrucks, und dieser Ausdruck ist im <lb n="pvi_1415.013"/> Drama der Ausdruck der Freiheit, des entscheidenden Wollens. Nun erst legt <lb n="pvi_1415.014"/> sich das ganze Gewicht so auf diesen Punct, daß der Wille in jener Form <lb n="pvi_1415.015"/> der schärfsten Jntensität auftritt, die wir in §. 898 als die wesentlich dramatische <lb n="pvi_1415.016"/> aufgestellt haben: das moderne Drama fordert revolutionäre, im tiefsten <lb n="pvi_1415.017"/> Sinne des Worts radicale Charaktere. Mit der durchschneidenden Entschiedenheit <lb n="pvi_1415.018"/> entwickelt sich jetzt auch die Fülle und Tiefe der inneren Welt, der <lb n="pvi_1415.019"/> charakteristische Styl ist zugleich der subjective, psychologische. Dieß hat aber <lb n="pvi_1415.020"/> ebenso ganz objective Bedeutung: das Streben des Helden soll ja allgemein <lb n="pvi_1415.021"/> menschlichen, ewig wahren Jnhalt haben, soll Pathos im gewichtigen Sinne <lb n="pvi_1415.022"/> des Wortes sein und gerade die objective Gewalt und Wahrheit des Pathos <lb n="pvi_1415.023"/> will der moderne Geist daran erkennen, daß es den Menschen mit aller <lb n="pvi_1415.024"/> Vielseitigkeit, Besonderheit und Eigenheit seiner Kräfte in Besitz nimmt. <lb n="pvi_1415.025"/> Der complicirtere, oder, wie man sonst sagte, gemischtere Charakter ist demnach <lb n="pvi_1415.026"/> objectiv wie subjectiv gefordert, ein Charakter, der sich in gebrochener <lb n="pvi_1415.027"/> Linie, in scheinbaren Widersprüchen bewegt. Dieß ist zugleich der Grund <lb n="pvi_1415.028"/> der reicheren Fabel, der mannigfaltig sich verästenden Handlung, der <hi rendition="#g">Polymythie</hi> <lb n="pvi_1415.029"/> im neueren Drama. Es verhält sich wie mit der Ausbildung der <lb n="pvi_1415.030"/> Harmonie in der neueren Musik: die größere Zahl der Personen entspricht <lb n="pvi_1415.031"/> genau der reichen Jnstrumentirung des modernen Musikwerks; wir wollen <lb n="pvi_1415.032"/> den einen Grundton in mannigfaltigerer Resonanz vernehmen, dieselbe Bewegung <lb n="pvi_1415.033"/> des Jnnern vielfacher gewendet, wie sie sich in verschiedenen Gemüthern, <lb n="pvi_1415.034"/> Fällen, Folgen spiegelt, oder, um die Beziehung der Style zum Unterschiede <lb n="pvi_1415.035"/> der Plastik und Malerei nicht zu vergessen, wir wollen den tieferen Hintergrund, <lb n="pvi_1415.036"/> die reichere Composition der letzteren statt der unbenützten Fläche, <lb n="pvi_1415.037"/> welche die sparsameren Gruppen des Relief umgibt. Jst die Handlung <lb n="pvi_1415.038"/> mannigfaltiger, so ist sie nothwendig auch verwickelter und ihr verschlungener <lb n="pvi_1415.039"/> Knoten entspricht der verschlungneren Form des Charakters. – Diese <lb n="pvi_1415.040"/> innern Bedingungen sind denn auch der tiefere Grund der Entfernung <lb n="pvi_1415.041"/> des Chors. Eine Handlung, die vom Prinzip der Jmmanenz so streng </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1415/0277]
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daß mythische Motive im Fortgange sich in naturgemäße Wahrheit aufheben; pvi_1415.002
der Mensch ist also auf sich, auf die eigenen Füße gestellt, seine Loose fallen pvi_1415.003
in seinem eignen Jnnern, das Schicksal erzeugt sich aus der Freiheit. „Das pvi_1415.004
Schicksal oder, welches einerlei ist, die entschiedene Natur des Menschen, pvi_1415.005
die ihn blind da oder dorthin führt“, sagt Göthe (Briefw. mit Schiller pvi_1415.006
Th. 3, S. 84). Es fehlt in dieser Bezeichnung der immanenten modernen pvi_1415.007
Schicksals-Jdee eine Reihe vermittelnder Begriffe, die nach unserer Lehre pvi_1415.008
vom Tragischen keiner weiteren Auseinandersetzung bedürfen, sie ist aber pvi_1415.009
dennoch schlagend und treffend. Der Charakter nun erkauft sich in dieser pvi_1415.010
Auffassung das Recht, mit dem weiteren Umfang seiner Eigenheiten und pvi_1415.011
Härten, mit seiner unregelmäßigeren, zerfurchteren Gestalt in die Poesie pvi_1415.012
einzutreten, durch das Uebergewicht des Ausdrucks, und dieser Ausdruck ist im pvi_1415.013
Drama der Ausdruck der Freiheit, des entscheidenden Wollens. Nun erst legt pvi_1415.014
sich das ganze Gewicht so auf diesen Punct, daß der Wille in jener Form pvi_1415.015
der schärfsten Jntensität auftritt, die wir in §. 898 als die wesentlich dramatische pvi_1415.016
aufgestellt haben: das moderne Drama fordert revolutionäre, im tiefsten pvi_1415.017
Sinne des Worts radicale Charaktere. Mit der durchschneidenden Entschiedenheit pvi_1415.018
entwickelt sich jetzt auch die Fülle und Tiefe der inneren Welt, der pvi_1415.019
charakteristische Styl ist zugleich der subjective, psychologische. Dieß hat aber pvi_1415.020
ebenso ganz objective Bedeutung: das Streben des Helden soll ja allgemein pvi_1415.021
menschlichen, ewig wahren Jnhalt haben, soll Pathos im gewichtigen Sinne pvi_1415.022
des Wortes sein und gerade die objective Gewalt und Wahrheit des Pathos pvi_1415.023
will der moderne Geist daran erkennen, daß es den Menschen mit aller pvi_1415.024
Vielseitigkeit, Besonderheit und Eigenheit seiner Kräfte in Besitz nimmt. pvi_1415.025
Der complicirtere, oder, wie man sonst sagte, gemischtere Charakter ist demnach pvi_1415.026
objectiv wie subjectiv gefordert, ein Charakter, der sich in gebrochener pvi_1415.027
Linie, in scheinbaren Widersprüchen bewegt. Dieß ist zugleich der Grund pvi_1415.028
der reicheren Fabel, der mannigfaltig sich verästenden Handlung, der Polymythie pvi_1415.029
im neueren Drama. Es verhält sich wie mit der Ausbildung der pvi_1415.030
Harmonie in der neueren Musik: die größere Zahl der Personen entspricht pvi_1415.031
genau der reichen Jnstrumentirung des modernen Musikwerks; wir wollen pvi_1415.032
den einen Grundton in mannigfaltigerer Resonanz vernehmen, dieselbe Bewegung pvi_1415.033
des Jnnern vielfacher gewendet, wie sie sich in verschiedenen Gemüthern, pvi_1415.034
Fällen, Folgen spiegelt, oder, um die Beziehung der Style zum Unterschiede pvi_1415.035
der Plastik und Malerei nicht zu vergessen, wir wollen den tieferen Hintergrund, pvi_1415.036
die reichere Composition der letzteren statt der unbenützten Fläche, pvi_1415.037
welche die sparsameren Gruppen des Relief umgibt. Jst die Handlung pvi_1415.038
mannigfaltiger, so ist sie nothwendig auch verwickelter und ihr verschlungener pvi_1415.039
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innern Bedingungen sind denn auch der tiefere Grund der Entfernung pvi_1415.041
des Chors. Eine Handlung, die vom Prinzip der Jmmanenz so streng
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