Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1224.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0086" n="1224"/><lb n="pvi_1224.001"/> Buhlschaft statt der Kleider, womit sie sich putzt, der Mord statt: der Mörder. <lb n="pvi_1224.002"/> Es ist nun dieß zunächst gar nichts Anderes, als eine logische Abbreviatur, <lb n="pvi_1224.003"/> welche alle Sprache, auch die ganz gewöhnliche Prosa übt; dennoch bedarf <lb n="pvi_1224.004"/> es nur eines Schritts, um von dieser scheinbar weitesten Entfernung zu <lb n="pvi_1224.005"/> dem lebendigsten Mittelpuncte der Poesie umzulenken. Dieß geschieht nicht <lb n="pvi_1224.006"/> etwa blos dadurch, daß der Dichter das Abstractum setzt, wo es die Prosa <lb n="pvi_1224.007"/> nicht gesetzt hätte; wenn z. B. Makbeth vor der Ermordung Duncan's sagt: <lb n="pvi_1224.008"/> jetzt geht der Mord an sein Geschäft, so hätte hier auch die gewöhnliche <lb n="pvi_1224.009"/> Rede Mord, statt: Mörder setzen können. Der Dichter erhebt vielmehr, <lb n="pvi_1224.010"/> was annähernd oder wirklich in jedem Momente wärmeren Antheils der <lb n="pvi_1224.011"/> Phantasie auch die Prosa vollzieht, dann abgenützt in unzähligen Wendungen <lb n="pvi_1224.012"/> stehend wiederholt (die trauernde Menschheit, die lächelnde Hoffnung, das <lb n="pvi_1224.013"/> schnellschreitende Jahrhundert u. dergl.), zum vollen Acte: er beseelt, er personificirt <lb n="pvi_1224.014"/> das Abstractum. Dieß geschieht durch originale Belebungskraft <lb n="pvi_1224.015"/> im Epitheton und im Verbum mit ihren weitern Entwicklungen und Zusätzen: <lb n="pvi_1224.016"/> der dürre Mord, geweckt von seiner Schildwacht, dem Wolf, der <lb n="pvi_1224.017"/> das Signal ihm heult, fährt auf und schreitet hin nach seinem Ziel gespenstisch; <lb n="pvi_1224.018"/> die seidne Buhlschaft liegt im Kleiderschrank (wie ein lebendiges <lb n="pvi_1224.019"/> Wesen, das zur todten Puppe geworden); der Krieg sträubt den zornigen <lb n="pvi_1224.020"/> Kamm und fletscht dem Frieden in die milden Augen; dieser schlummert in <lb n="pvi_1224.021"/> der Wiege des Landes, tritt „mädchenblaß“ unter die Menschen, jener als <lb n="pvi_1224.022"/> gluthaugige, schnaubende Jungfrau. Es erhellt, daß dieß Personificiren <lb n="pvi_1224.023"/> derselbe Act ist wie der, durch welchen die Götter entstanden sind, mit dem <lb n="pvi_1224.024"/> Unterschiede, daß er freier ästhetischer Schein bleibt, während in der Mythologie <lb n="pvi_1224.025"/> die bedeutendsten seiner Schöpfungen sich im Glauben als wirkliche <lb n="pvi_1224.026"/> Wesen festsetzten. Doch hat das mythische Bewußtsein neben diesen seinen <lb n="pvi_1224.027"/> festgeglaubten Personificationen natürlich auch in frei poetischer Weise denselben <lb n="pvi_1224.028"/> Act, nur gerade noch erleichtert durch die Gewohnheit des Götterbildens, <lb n="pvi_1224.029"/> fortwährend in der reichsten Fülle ausgeübt; die Alten zeigen in <lb n="pvi_1224.030"/> der Beseelung allgemeiner Begriffe eine Kühnheit, Bewegtheit der Phantasie, <lb n="pvi_1224.031"/> die man von ihrer plastischen Ruhe kaum erwartet. Bei Sophokles heißt <lb n="pvi_1224.032"/> die Hülfe heiterblickend, Reden bei Euripides und Aristophanes unfreundlich <lb n="pvi_1224.033"/> blickend, bei Pindar hat das im Werden begriffene Lied ein fernleuchtendes <lb n="pvi_1224.034"/> Antlitz, selbst der Seele werden Augen zugeschrieben, die Verläumdung hat <lb n="pvi_1224.035"/> brennenden Blick, wie bei Shakespeare die Eifersucht ein grünaugiges Ungeheuer <lb n="pvi_1224.036"/> ist, (vergl. Ueber personific. Adjectiva und Epitheta bei griechischen <lb n="pvi_1224.037"/> Dichtern. V. C. C. Hense). Noch Horaz hat phantasievolle Anschauungen <lb n="pvi_1224.038"/> dieser Art, wie z. B. die Sorge, die sich hinter den Reiter auf's Pferd setzt. <lb n="pvi_1224.039"/> Shakespeare's besonderes Feuer und Alles belebender Reichthum im Personificiren <lb n="pvi_1224.040"/> genoß, wie bekannt, eine Unterstützung, welche fast als Surrogat <lb n="pvi_1224.041"/> jener mythischen Gewöhnung der Phantasie betrachtet werden kann: nämlich </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1224/0086]
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Buhlschaft statt der Kleider, womit sie sich putzt, der Mord statt: der Mörder. pvi_1224.002
Es ist nun dieß zunächst gar nichts Anderes, als eine logische Abbreviatur, pvi_1224.003
welche alle Sprache, auch die ganz gewöhnliche Prosa übt; dennoch bedarf pvi_1224.004
es nur eines Schritts, um von dieser scheinbar weitesten Entfernung zu pvi_1224.005
dem lebendigsten Mittelpuncte der Poesie umzulenken. Dieß geschieht nicht pvi_1224.006
etwa blos dadurch, daß der Dichter das Abstractum setzt, wo es die Prosa pvi_1224.007
nicht gesetzt hätte; wenn z. B. Makbeth vor der Ermordung Duncan's sagt: pvi_1224.008
jetzt geht der Mord an sein Geschäft, so hätte hier auch die gewöhnliche pvi_1224.009
Rede Mord, statt: Mörder setzen können. Der Dichter erhebt vielmehr, pvi_1224.010
was annähernd oder wirklich in jedem Momente wärmeren Antheils der pvi_1224.011
Phantasie auch die Prosa vollzieht, dann abgenützt in unzähligen Wendungen pvi_1224.012
stehend wiederholt (die trauernde Menschheit, die lächelnde Hoffnung, das pvi_1224.013
schnellschreitende Jahrhundert u. dergl.), zum vollen Acte: er beseelt, er personificirt pvi_1224.014
das Abstractum. Dieß geschieht durch originale Belebungskraft pvi_1224.015
im Epitheton und im Verbum mit ihren weitern Entwicklungen und Zusätzen: pvi_1224.016
der dürre Mord, geweckt von seiner Schildwacht, dem Wolf, der pvi_1224.017
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Wesen, das zur todten Puppe geworden); der Krieg sträubt den zornigen pvi_1224.020
Kamm und fletscht dem Frieden in die milden Augen; dieser schlummert in pvi_1224.021
der Wiege des Landes, tritt „mädchenblaß“ unter die Menschen, jener als pvi_1224.022
gluthaugige, schnaubende Jungfrau. Es erhellt, daß dieß Personificiren pvi_1224.023
derselbe Act ist wie der, durch welchen die Götter entstanden sind, mit dem pvi_1224.024
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Wesen festsetzten. Doch hat das mythische Bewußtsein neben diesen seinen pvi_1224.027
festgeglaubten Personificationen natürlich auch in frei poetischer Weise denselben pvi_1224.028
Act, nur gerade noch erleichtert durch die Gewohnheit des Götterbildens, pvi_1224.029
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der Beseelung allgemeiner Begriffe eine Kühnheit, Bewegtheit der Phantasie, pvi_1224.031
die man von ihrer plastischen Ruhe kaum erwartet. Bei Sophokles heißt pvi_1224.032
die Hülfe heiterblickend, Reden bei Euripides und Aristophanes unfreundlich pvi_1224.033
blickend, bei Pindar hat das im Werden begriffene Lied ein fernleuchtendes pvi_1224.034
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brennenden Blick, wie bei Shakespeare die Eifersucht ein grünaugiges Ungeheuer pvi_1224.036
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dieser Art, wie z. B. die Sorge, die sich hinter den Reiter auf's Pferd setzt. pvi_1224.039
Shakespeare's besonderes Feuer und Alles belebender Reichthum im Personificiren pvi_1224.040
genoß, wie bekannt, eine Unterstützung, welche fast als Surrogat pvi_1224.041
jener mythischen Gewöhnung der Phantasie betrachtet werden kann: nämlich
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