die Empfindung wagend. Eine junge Monar¬ chin, schön, liebenswürdig, geistvoll, ist mit ei¬ nem Gemahl verbunden, dem alle ihre Vorzüge mangeln. Er kömmt eben zur Regierung, be¬ legt aber durch seine ersten Schritte, dem gro¬ ßen Amte durchaus nicht gewachsen zu sein. Die Gemahlin erkennt die Richtung, welche dem Volke zu seinem Wohl gegeben werden müsse, die Kraft ihres Genius regt sich kühn, von Liebe zu den Unterthanen stammt ihre edelempfindende Brust. Doch vermag sie nichts über den Ge¬ mahl, der sie nicht versteht, ihren schönen Sinn anfeindet, und in Roheit waltet. Tirannei und Zerrüttung drohen dem Reich, die Monarchin fühlt, sie könne ihm eine gedeihenvolle Zeit blü¬ hen lassen.
Ein weiser Vertrauter ruft ihr zu: Besteige den Thron, herrsche, beglücke! Sie schaudert. Sie kann nur über den Leichnam des Gemahls jenen Stufen nahn. Es ist ein Unwürdiger, doch sie seine Gattin. Ihr Zartgefühl empört der Gedanke an jeden Mord, um wieviel mehr an den des Gemahls! Ihr Herz trägt solche Vor¬ stellung nicht, ihre Einbildungskraft muß ihr entfliehn.
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die Empfindung wagend. Eine junge Monar¬ chin, ſchoͤn, liebenswuͤrdig, geiſtvoll, iſt mit ei¬ nem Gemahl verbunden, dem alle ihre Vorzuͤge mangeln. Er koͤmmt eben zur Regierung, be¬ legt aber durch ſeine erſten Schritte, dem gro¬ ßen Amte durchaus nicht gewachſen zu ſein. Die Gemahlin erkennt die Richtung, welche dem Volke zu ſeinem Wohl gegeben werden muͤſſe, die Kraft ihres Genius regt ſich kuͤhn, von Liebe zu den Unterthanen ſtammt ihre edelempfindende Bruſt. Doch vermag ſie nichts uͤber den Ge¬ mahl, der ſie nicht verſteht, ihren ſchoͤnen Sinn anfeindet, und in Roheit waltet. Tirannei und Zerruͤttung drohen dem Reich, die Monarchin fuͤhlt, ſie koͤnne ihm eine gedeihenvolle Zeit bluͤ¬ hen laſſen.
Ein weiſer Vertrauter ruft ihr zu: Beſteige den Thron, herrſche, begluͤcke! Sie ſchaudert. Sie kann nur uͤber den Leichnam des Gemahls jenen Stufen nahn. Es iſt ein Unwuͤrdiger, doch ſie ſeine Gattin. Ihr Zartgefuͤhl empoͤrt der Gedanke an jeden Mord, um wieviel mehr an den des Gemahls! Ihr Herz traͤgt ſolche Vor¬ ſtellung nicht, ihre Einbildungskraft muß ihr entfliehn.
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die Empfindung wagend. Eine junge Monar¬
chin, ſchoͤn, liebenswuͤrdig, geiſtvoll, iſt mit ei¬
nem Gemahl verbunden, dem alle ihre Vorzuͤge
mangeln. Er koͤmmt eben zur Regierung, be¬
legt aber durch ſeine erſten Schritte, dem gro¬
ßen Amte durchaus nicht gewachſen zu ſein.
Die Gemahlin erkennt die Richtung, welche dem
Volke zu ſeinem Wohl gegeben werden muͤſſe, die
Kraft ihres Genius regt ſich kuͤhn, von Liebe
zu den Unterthanen ſtammt ihre edelempfindende
Bruſt. Doch vermag ſie nichts uͤber den Ge¬
mahl, der ſie nicht verſteht, ihren ſchoͤnen Sinn
anfeindet, und in Roheit waltet. Tirannei und
Zerruͤttung drohen dem Reich, die Monarchin
fuͤhlt, ſie koͤnne ihm eine gedeihenvolle Zeit bluͤ¬
hen laſſen.
Ein weiſer Vertrauter ruft ihr zu: Beſteige
den Thron, herrſche, begluͤcke! Sie ſchaudert.
Sie kann nur uͤber den Leichnam des Gemahls
jenen Stufen nahn. Es iſt ein Unwuͤrdiger,
doch ſie ſeine Gattin. Ihr Zartgefuͤhl empoͤrt
der Gedanke an jeden Mord, um wieviel mehr
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Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/271>, abgerufen am 22.11.2024.
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