Verstand hätte durch die unbegreiflichen Erschei¬ nungen in Zerrüttung sinken können.
Wer malt nun aber sein Staunen! "Funfzig Jahre hätte ich geschlafen? Unmöglich!"
Man zeigte ihm Bücher mit der laufenden Jahrzahl, rief einige Personen, deren er sich als Jünglinge oder Kinder entsann, deren jetzige Gestalt keinen Zweifel bestehen ließ. Er konnte es dennoch immer nicht glauben, ihm war, als sei er vor wenigen Minuten versunken, und rühmte wiederholt die Süßigkeit seines tiefen Schlummers.
Endlich mußte er aber die Wahrheit erkennen, und wurde durch ganz Paris geführt, wo Fenster und Dächer, wie sich denken läßt, mit Zuschauern überfüllt waren. Geschichtforscher und Antiquare ließen ihm daheim keinen Augenblick Ruh, und erfuhren auch in der That, manches ihnen Unbe¬ kannte, durch seinen Mund.
Er hatte nun gehört, die weitere Strafe sei ihm erlassen. Doch rief er: Mein Gewis¬ sen klagt mich zu laut an, ich verdiene es nicht!
Man entgegnete: Möchte vor funfzig Jahren geschehen sein, was da wolle, die Zeit hätte einen Schleier darüber geworfen, auch seitdem
Erzie¬
Verſtand haͤtte durch die unbegreiflichen Erſchei¬ nungen in Zerruͤttung ſinken koͤnnen.
Wer malt nun aber ſein Staunen! „Funfzig Jahre haͤtte ich geſchlafen? Unmoͤglich!“
Man zeigte ihm Buͤcher mit der laufenden Jahrzahl, rief einige Perſonen, deren er ſich als Juͤnglinge oder Kinder entſann, deren jetzige Geſtalt keinen Zweifel beſtehen ließ. Er konnte es dennoch immer nicht glauben, ihm war, als ſei er vor wenigen Minuten verſunken, und ruͤhmte wiederholt die Suͤßigkeit ſeines tiefen Schlummers.
Endlich mußte er aber die Wahrheit erkennen, und wurde durch ganz Paris gefuͤhrt, wo Fenſter und Daͤcher, wie ſich denken laͤßt, mit Zuſchauern uͤberfuͤllt waren. Geſchichtforſcher und Antiquare ließen ihm daheim keinen Augenblick Ruh, und erfuhren auch in der That, manches ihnen Unbe¬ kannte, durch ſeinen Mund.
Er hatte nun gehoͤrt, die weitere Strafe ſei ihm erlaſſen. Doch rief er: Mein Gewiſ¬ ſen klagt mich zu laut an, ich verdiene es nicht!
Man entgegnete: Moͤchte vor funfzig Jahren geſchehen ſein, was da wolle, die Zeit haͤtte einen Schleier daruͤber geworfen, auch ſeitdem
Erzie¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0284"n="272"/>
Verſtand haͤtte durch die unbegreiflichen Erſchei¬<lb/>
nungen in Zerruͤttung ſinken koͤnnen.</p><lb/><p>Wer malt nun aber ſein Staunen! „Funfzig<lb/>
Jahre haͤtte ich geſchlafen? Unmoͤglich!“</p><lb/><p>Man zeigte ihm Buͤcher mit der laufenden<lb/>
Jahrzahl, rief einige Perſonen, deren er ſich als<lb/>
Juͤnglinge oder Kinder entſann, deren jetzige<lb/>
Geſtalt keinen Zweifel beſtehen ließ. Er konnte<lb/>
es dennoch immer nicht glauben, ihm war, als<lb/>ſei er vor wenigen Minuten verſunken, und<lb/>
ruͤhmte wiederholt die Suͤßigkeit ſeines tiefen<lb/>
Schlummers.</p><lb/><p>Endlich mußte er aber die Wahrheit erkennen,<lb/>
und wurde durch ganz Paris gefuͤhrt, wo Fenſter<lb/>
und Daͤcher, wie ſich denken laͤßt, mit Zuſchauern<lb/>
uͤberfuͤllt waren. Geſchichtforſcher und Antiquare<lb/>
ließen ihm daheim keinen Augenblick Ruh, und<lb/>
erfuhren auch in der That, manches ihnen Unbe¬<lb/>
kannte, durch ſeinen Mund.</p><lb/><p>Er hatte nun gehoͤrt, die weitere Strafe<lb/>ſei ihm erlaſſen. Doch rief er: Mein Gewiſ¬<lb/>ſen klagt mich zu laut an, ich verdiene es nicht!</p><lb/><p>Man entgegnete: Moͤchte vor funfzig Jahren<lb/>
geſchehen ſein, was da wolle, die Zeit haͤtte<lb/>
einen Schleier daruͤber geworfen, auch ſeitdem<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Erzie¬<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[272/0284]
Verſtand haͤtte durch die unbegreiflichen Erſchei¬
nungen in Zerruͤttung ſinken koͤnnen.
Wer malt nun aber ſein Staunen! „Funfzig
Jahre haͤtte ich geſchlafen? Unmoͤglich!“
Man zeigte ihm Buͤcher mit der laufenden
Jahrzahl, rief einige Perſonen, deren er ſich als
Juͤnglinge oder Kinder entſann, deren jetzige
Geſtalt keinen Zweifel beſtehen ließ. Er konnte
es dennoch immer nicht glauben, ihm war, als
ſei er vor wenigen Minuten verſunken, und
ruͤhmte wiederholt die Suͤßigkeit ſeines tiefen
Schlummers.
Endlich mußte er aber die Wahrheit erkennen,
und wurde durch ganz Paris gefuͤhrt, wo Fenſter
und Daͤcher, wie ſich denken laͤßt, mit Zuſchauern
uͤberfuͤllt waren. Geſchichtforſcher und Antiquare
ließen ihm daheim keinen Augenblick Ruh, und
erfuhren auch in der That, manches ihnen Unbe¬
kannte, durch ſeinen Mund.
Er hatte nun gehoͤrt, die weitere Strafe
ſei ihm erlaſſen. Doch rief er: Mein Gewiſ¬
ſen klagt mich zu laut an, ich verdiene es nicht!
Man entgegnete: Moͤchte vor funfzig Jahren
geſchehen ſein, was da wolle, die Zeit haͤtte
einen Schleier daruͤber geworfen, auch ſeitdem
Erzie¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/284>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.