Und zwei Mädchen schliefen, geschmückt mit der Grazien Anmut, Neben den Pfosten, und dicht war die glänzende Pforte verschloßen. Aber sie schwebte, wie wehende Luft, zum Lager der Jungfrau, 20 Neigte sich über ihr Haupt, und sprach mit freundlicher Stimme, Gleich an Gestalt der Tochter des segelkundigen Dümas, Ihrer liebsten Gespielin, mit ihr von einerlei Alter; Dieser gleich an Gestalt erschien die Göttin, und sagte:
Liebes Kind, was bist du mir doch ein läßiges Mädchen! 25 Deine kostbaren Kleider, wie alles im Wuste herumliegt! Und die Hochzeit steht dir bevor! Da muß doch was schönes Sein für dich selber, und die, so dich zum Bräutigam führen! Denn durch schöne Kleider erlangt man ein gutes Gerüchte Bei den Leuten; auch freun sich deßen, Vater und Mutter. 30 Laß uns denn eilen und waschen, sobald der Morgen sich röthet! Ich will deine Gehülfin sein, damit du geschwinder Fertig werdest; denn Mädchen, du bleibst nicht lange mehr Jungfrau. Siehe, es werben ja schon die edelsten Jüngling' im Volke Aller Faiaken um dich; denn du stammst selber von Edlen. 35 Auf! erinnere noch vor der Morgenröthe den Vater, Daß er mit Mäulern dir den Wagen bespanne, worauf man Lade die schönen Gewande, die Gürtel und prächtigen Decken. Auch für dich ist es so bequemer, als wenn du zu Fuße Gehen wolltest; denn weit von der Stadt sind die Spülen entlegen. 40
Also redete Zeus blauäugichte Tochter, und kehrte Wieder zum hohen Olümpos, der Götter ewigem Wohnsiz, Nie von Orkanen erschüttert, vom Regen nimmer beflutet, Nimmer bestöbert vom Schnee; die wolkenloseste Heitre Wallet ruhig umher, und deckt ihn mit schimmerndem Glanze: 45
Sechſter Geſang.
Und zwei Maͤdchen ſchliefen, geſchmuͤckt mit der Grazien Anmut, Neben den Pfoſten, und dicht war die glaͤnzende Pforte verſchloßen. Aber ſie ſchwebte, wie wehende Luft, zum Lager der Jungfrau, 20 Neigte ſich uͤber ihr Haupt, und ſprach mit freundlicher Stimme, Gleich an Geſtalt der Tochter des ſegelkundigen Duͤmas, Ihrer liebſten Geſpielin, mit ihr von einerlei Alter; Dieſer gleich an Geſtalt erſchien die Goͤttin, und ſagte:
Liebes Kind, was biſt du mir doch ein laͤßiges Maͤdchen! 25 Deine koſtbaren Kleider, wie alles im Wuſte herumliegt! Und die Hochzeit ſteht dir bevor! Da muß doch was ſchoͤnes Sein fuͤr dich ſelber, und die, ſo dich zum Braͤutigam fuͤhren! Denn durch ſchoͤne Kleider erlangt man ein gutes Geruͤchte Bei den Leuten; auch freun ſich deßen, Vater und Mutter. 30 Laß uns denn eilen und waſchen, ſobald der Morgen ſich roͤthet! Ich will deine Gehuͤlfin ſein, damit du geſchwinder Fertig werdeſt; denn Maͤdchen, du bleibſt nicht lange mehr Jungfrau. Siehe, es werben ja ſchon die edelſten Juͤngling' im Volke Aller Faiaken um dich; denn du ſtammſt ſelber von Edlen. 35 Auf! erinnere noch vor der Morgenroͤthe den Vater, Daß er mit Maͤulern dir den Wagen beſpanne, worauf man Lade die ſchoͤnen Gewande, die Guͤrtel und praͤchtigen Decken. Auch fuͤr dich iſt es ſo bequemer, als wenn du zu Fuße Gehen wollteſt; denn weit von der Stadt ſind die Spuͤlen entlegen. 40
Alſo redete Zeus blauaͤugichte Tochter, und kehrte Wieder zum hohen Oluͤmpos, der Goͤtter ewigem Wohnſiz, Nie von Orkanen erſchuͤttert, vom Regen nimmer beflutet, Nimmer beſtoͤbert vom Schnee; die wolkenloſeſte Heitre Wallet ruhig umher, und deckt ihn mit ſchimmerndem Glanze: 45
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Sechſter Geſang.
Und zwei Maͤdchen ſchliefen, geſchmuͤckt mit der Grazien Anmut,
Neben den Pfoſten, und dicht war die glaͤnzende Pforte verſchloßen.
Aber ſie ſchwebte, wie wehende Luft, zum Lager der Jungfrau,
Neigte ſich uͤber ihr Haupt, und ſprach mit freundlicher Stimme,
Gleich an Geſtalt der Tochter des ſegelkundigen Duͤmas,
Ihrer liebſten Geſpielin, mit ihr von einerlei Alter;
Dieſer gleich an Geſtalt erſchien die Goͤttin, und ſagte:
20
Liebes Kind, was biſt du mir doch ein laͤßiges Maͤdchen!
Deine koſtbaren Kleider, wie alles im Wuſte herumliegt!
Und die Hochzeit ſteht dir bevor! Da muß doch was ſchoͤnes
Sein fuͤr dich ſelber, und die, ſo dich zum Braͤutigam fuͤhren!
Denn durch ſchoͤne Kleider erlangt man ein gutes Geruͤchte
Bei den Leuten; auch freun ſich deßen, Vater und Mutter.
Laß uns denn eilen und waſchen, ſobald der Morgen ſich roͤthet!
Ich will deine Gehuͤlfin ſein, damit du geſchwinder
Fertig werdeſt; denn Maͤdchen, du bleibſt nicht lange mehr Jungfrau.
Siehe, es werben ja ſchon die edelſten Juͤngling' im Volke
Aller Faiaken um dich; denn du ſtammſt ſelber von Edlen.
Auf! erinnere noch vor der Morgenroͤthe den Vater,
Daß er mit Maͤulern dir den Wagen beſpanne, worauf man
Lade die ſchoͤnen Gewande, die Guͤrtel und praͤchtigen Decken.
Auch fuͤr dich iſt es ſo bequemer, als wenn du zu Fuße
Gehen wollteſt; denn weit von der Stadt ſind die Spuͤlen entlegen.
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35
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Alſo redete Zeus blauaͤugichte Tochter, und kehrte
Wieder zum hohen Oluͤmpos, der Goͤtter ewigem Wohnſiz,
Nie von Orkanen erſchuͤttert, vom Regen nimmer beflutet,
Nimmer beſtoͤbert vom Schnee; die wolkenloſeſte Heitre
Wallet ruhig umher, und deckt ihn mit ſchimmerndem Glanze:
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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/121>, abgerufen am 24.11.2024.
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