Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite
Zehnter Gesang.

Also sprach er; und ich warf eilend das silberbeschlagne
Große eherne Schwert um die Schulter, samt Bogen und Köcher;
Und befahl ihm, mich gleich des selbigen Weges zu führen.
Aber er faßte mir flehend mit beiden Händen die Kniee,
Und wehklagete laut, und sprach die geflügelten Worte: 265

Göttlicher, laße mich hier, und führe mich nicht mit Gewalt hin!
Denn ich weiß es, du kehrst nicht wieder von dannen, und bringest
Keinen Gefährten zurück! Drum laß uns geschwinde mit diesen
Fliehn! Vielleicht daß wir noch dem Tage des Fluches entrinnen!

Also sprach er; und ich antwortete wieder, und sagte: 270
Nun so bleibe denn du, Eurülochos, hier auf der Stelle!
Iß und trink dich satt, bei dem schwarzen gebogenen Schiffe!
Aber ich geh' allein! denn ich fühle die Noth, die mich hintreibt!

Also sprach ich, und ging von dem Schiff' und dem Ufer des Meeres.
Jezo nähert' ich mich, die heiligen Thale durchwandelnd, 275
Schon dem hohen Palaste der furchtbaren Zauberin Kirkä;
Da begegnete mir Hermeias mit goldenem Stabe
Auf dem Wege zur Burg, an Gestalt ein blühender Jüngling,
Deßen Wange sich bräunt, im holdesten Reize der Jugend.
Dieser gab mir die Hand, und sagte mit freundlicher Stimme: 280

Armer, wie gehst du hier so allein durch die bergichte Waldung,
Da du die Gegend nicht kennst? Bei Kirkä sind deine Gefährten
Eingesperrt, wie Schweine, in dichtverschloßenen Ställen.
Gehst du etwa dahin, sie zu retten? Ich fürchte, du kehrest
Nicht von dannen zurück, du bleibest selbst bei den Andern. 285
Aber wohlan! ich will dich vor allem Uebel bewahren!
Nim dies heilsame Mittel, und gehe zum Hause der Kirkä,

R
Zehnter Geſang.

Alſo ſprach er; und ich warf eilend das ſilberbeſchlagne
Große eherne Schwert um die Schulter, ſamt Bogen und Koͤcher;
Und befahl ihm, mich gleich des ſelbigen Weges zu fuͤhren.
Aber er faßte mir flehend mit beiden Haͤnden die Kniee,
Und wehklagete laut, und ſprach die gefluͤgelten Worte: 265

Goͤttlicher, laße mich hier, und fuͤhre mich nicht mit Gewalt hin!
Denn ich weiß es, du kehrſt nicht wieder von dannen, und bringeſt
Keinen Gefaͤhrten zuruͤck! Drum laß uns geſchwinde mit dieſen
Fliehn! Vielleicht daß wir noch dem Tage des Fluches entrinnen!

Alſo ſprach er; und ich antwortete wieder, und ſagte: 270
Nun ſo bleibe denn du, Euruͤlochos, hier auf der Stelle!
Iß und trink dich ſatt, bei dem ſchwarzen gebogenen Schiffe!
Aber ich geh' allein! denn ich fuͤhle die Noth, die mich hintreibt!

Alſo ſprach ich, und ging von dem Schiff' und dem Ufer des Meeres.
Jezo naͤhert' ich mich, die heiligen Thale durchwandelnd, 275
Schon dem hohen Palaſte der furchtbaren Zauberin Kirkaͤ;
Da begegnete mir Hermeias mit goldenem Stabe
Auf dem Wege zur Burg, an Geſtalt ein bluͤhender Juͤngling,
Deßen Wange ſich braͤunt, im holdeſten Reize der Jugend.
Dieſer gab mir die Hand, und ſagte mit freundlicher Stimme: 280

Armer, wie gehſt du hier ſo allein durch die bergichte Waldung,
Da du die Gegend nicht kennſt? Bei Kirkaͤ ſind deine Gefaͤhrten
Eingeſperrt, wie Schweine, in dichtverſchloßenen Staͤllen.
Gehſt du etwa dahin, ſie zu retten? Ich fuͤrchte, du kehreſt
Nicht von dannen zuruͤck, du bleibeſt ſelbſt bei den Andern. 285
Aber wohlan! ich will dich vor allem Uebel bewahren!
Nim dies heilſame Mittel, und gehe zum Hauſe der Kirkaͤ,

R
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0199" n="193"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Zehnter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach er; und ich warf eilend das &#x017F;ilberbe&#x017F;chlagne<lb/>
Große eherne Schwert um die Schulter, &#x017F;amt Bogen und Ko&#x0364;cher;<lb/>
Und befahl ihm, mich gleich des &#x017F;elbigen Weges zu fu&#x0364;hren.<lb/>
Aber er faßte mir flehend mit beiden Ha&#x0364;nden die Kniee,<lb/>
Und wehklagete laut, und &#x017F;prach die geflu&#x0364;gelten Worte: <note place="right">265</note></p><lb/>
        <p>Go&#x0364;ttlicher, laße mich hier, und fu&#x0364;hre mich nicht mit Gewalt hin!<lb/>
Denn ich weiß es, du kehr&#x017F;t nicht wieder von dannen, und bringe&#x017F;t<lb/>
Keinen Gefa&#x0364;hrten zuru&#x0364;ck! Drum laß uns ge&#x017F;chwinde mit die&#x017F;en<lb/>
Fliehn! Vielleicht daß wir noch dem Tage des Fluches entrinnen!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach er; und ich antwortete wieder, und &#x017F;agte: <note place="right">270</note><lb/>
Nun &#x017F;o bleibe denn du, Euru&#x0364;lochos, hier auf der Stelle!<lb/>
Iß und trink dich &#x017F;att, bei dem &#x017F;chwarzen gebogenen Schiffe!<lb/>
Aber ich geh' allein! denn ich fu&#x0364;hle die Noth, die mich hintreibt!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach ich, und ging von dem Schiff' und dem Ufer des Meeres.<lb/>
Jezo na&#x0364;hert' ich mich, die heiligen Thale durchwandelnd, <note place="right">275</note><lb/>
Schon dem hohen Pala&#x017F;te der furchtbaren Zauberin Kirka&#x0364;;<lb/>
Da begegnete mir Hermeias mit goldenem Stabe<lb/>
Auf dem Wege zur Burg, an Ge&#x017F;talt ein blu&#x0364;hender Ju&#x0364;ngling,<lb/>
Deßen Wange &#x017F;ich bra&#x0364;unt, im holde&#x017F;ten Reize der Jugend.<lb/>
Die&#x017F;er gab mir die Hand, und &#x017F;agte mit freundlicher Stimme: <note place="right">280</note></p><lb/>
        <p>Armer, wie geh&#x017F;t du hier &#x017F;o allein durch die bergichte Waldung,<lb/>
Da du die Gegend nicht kenn&#x017F;t? Bei Kirka&#x0364; &#x017F;ind deine Gefa&#x0364;hrten<lb/>
Einge&#x017F;perrt, wie Schweine, in dichtver&#x017F;chloßenen Sta&#x0364;llen.<lb/>
Geh&#x017F;t du etwa dahin, &#x017F;ie zu retten? Ich fu&#x0364;rchte, du kehre&#x017F;t<lb/>
Nicht von dannen zuru&#x0364;ck, du bleibe&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t bei den Andern. <note place="right">285</note><lb/>
Aber wohlan! ich will dich vor allem Uebel bewahren!<lb/>
Nim dies heil&#x017F;ame Mittel, und gehe zum Hau&#x017F;e der Kirka&#x0364;,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[193/0199] Zehnter Geſang. Alſo ſprach er; und ich warf eilend das ſilberbeſchlagne Große eherne Schwert um die Schulter, ſamt Bogen und Koͤcher; Und befahl ihm, mich gleich des ſelbigen Weges zu fuͤhren. Aber er faßte mir flehend mit beiden Haͤnden die Kniee, Und wehklagete laut, und ſprach die gefluͤgelten Worte: 265 Goͤttlicher, laße mich hier, und fuͤhre mich nicht mit Gewalt hin! Denn ich weiß es, du kehrſt nicht wieder von dannen, und bringeſt Keinen Gefaͤhrten zuruͤck! Drum laß uns geſchwinde mit dieſen Fliehn! Vielleicht daß wir noch dem Tage des Fluches entrinnen! Alſo ſprach er; und ich antwortete wieder, und ſagte: Nun ſo bleibe denn du, Euruͤlochos, hier auf der Stelle! Iß und trink dich ſatt, bei dem ſchwarzen gebogenen Schiffe! Aber ich geh' allein! denn ich fuͤhle die Noth, die mich hintreibt! 270 Alſo ſprach ich, und ging von dem Schiff' und dem Ufer des Meeres. Jezo naͤhert' ich mich, die heiligen Thale durchwandelnd, Schon dem hohen Palaſte der furchtbaren Zauberin Kirkaͤ; Da begegnete mir Hermeias mit goldenem Stabe Auf dem Wege zur Burg, an Geſtalt ein bluͤhender Juͤngling, Deßen Wange ſich braͤunt, im holdeſten Reize der Jugend. Dieſer gab mir die Hand, und ſagte mit freundlicher Stimme: 275 280 Armer, wie gehſt du hier ſo allein durch die bergichte Waldung, Da du die Gegend nicht kennſt? Bei Kirkaͤ ſind deine Gefaͤhrten Eingeſperrt, wie Schweine, in dichtverſchloßenen Staͤllen. Gehſt du etwa dahin, ſie zu retten? Ich fuͤrchte, du kehreſt Nicht von dannen zuruͤck, du bleibeſt ſelbſt bei den Andern. Aber wohlan! ich will dich vor allem Uebel bewahren! Nim dies heilſame Mittel, und gehe zum Hauſe der Kirkaͤ, 285 R

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/199
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/199>, abgerufen am 21.11.2024.