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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Odüßee.

Also sprach ich; mir gab die theure Mutter zur Antwort: 180
Allerdings weilt jene mit treuer duldender Seele
Noch in deinem Palast; und immer schwinden in Jammer
Ihre Tage dahin, und unter Thränen die Nächte.
Deine Würde empfing kein Anderer; sondern in Frieden
Baut Tälemachos noch des Königes Erbe, und speiset 185
Mit am Mahle des Volks, wie des Landes Richter gebühret;
Denn sie laden ihn alle. Dein Vater lebt auf dem Lande,
Wandelt nie in die Stadt, und wählet nimmer zum Lager
Bettgestelle, bedeckt mit Mänteln und prächtigen Polstern;
Sondern den Winter schläft er, bei seinen Knechten im Hause, 190
Neben dem Feuer im Staube, mit schlechten Gewanden umhüllet.
Und in den milderen Tagen des Sommers und reifenden Herbstes,
Bettet er überall im fruchtbaren Rebengefilde
Auf der Erde sein Lager von abgefallenen Blättern.
Seufzend liegt er darauf, bejammert dein Schicksal, und häufet 195
Größeren Schmerz auf die Seele; und schwerer drückt ihn das Alter.
Denn so starb auch ich, und fand mein Todesverhängniß.
Sohn, mich tödtete nicht die Freundin der treffenden Pfeile
Artemis unversehns mit ihrem sanften Geschoße.
Auch besiegten mich nicht Krankheiten, welche gewöhnlich 200
Mit verzehrendem Schmerze den Geist den Gliedern entreißen.
Bloß das Verlangen nach dir, und die Angst, mein edler Odüßeus,
Dein holdseliges Bild nahm deiner Mutter das Leben!

Also sprach sie; da schwoll mein Herz vor inniger Sehnsucht,
Sie zu umarmen, die Seele von meiner gestorbenen Mutter. 205
Dreimal sprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zu drücken;
Dreimal entschwebte sie leicht, wie ein Schatten oder ein Traumbild,

Oduͤßee.

Alſo ſprach ich; mir gab die theure Mutter zur Antwort: 180
Allerdings weilt jene mit treuer duldender Seele
Noch in deinem Palaſt; und immer ſchwinden in Jammer
Ihre Tage dahin, und unter Thraͤnen die Naͤchte.
Deine Wuͤrde empfing kein Anderer; ſondern in Frieden
Baut Taͤlemachos noch des Koͤniges Erbe, und ſpeiſet 185
Mit am Mahle des Volks, wie des Landes Richter gebuͤhret;
Denn ſie laden ihn alle. Dein Vater lebt auf dem Lande,
Wandelt nie in die Stadt, und waͤhlet nimmer zum Lager
Bettgeſtelle, bedeckt mit Maͤnteln und praͤchtigen Polſtern;
Sondern den Winter ſchlaͤft er, bei ſeinen Knechten im Hauſe, 190
Neben dem Feuer im Staube, mit ſchlechten Gewanden umhuͤllet.
Und in den milderen Tagen des Sommers und reifenden Herbſtes,
Bettet er uͤberall im fruchtbaren Rebengefilde
Auf der Erde ſein Lager von abgefallenen Blaͤttern.
Seufzend liegt er darauf, bejammert dein Schickſal, und haͤufet 195
Groͤßeren Schmerz auf die Seele; und ſchwerer druͤckt ihn das Alter.
Denn ſo ſtarb auch ich, und fand mein Todesverhaͤngniß.
Sohn, mich toͤdtete nicht die Freundin der treffenden Pfeile
Artemis unverſehns mit ihrem ſanften Geſchoße.
Auch beſiegten mich nicht Krankheiten, welche gewoͤhnlich 200
Mit verzehrendem Schmerze den Geiſt den Gliedern entreißen.
Bloß das Verlangen nach dir, und die Angſt, mein edler Oduͤßeus,
Dein holdſeliges Bild nahm deiner Mutter das Leben!

Alſo ſprach ſie; da ſchwoll mein Herz vor inniger Sehnſucht,
Sie zu umarmen, die Seele von meiner geſtorbenen Mutter. 205
Dreimal ſprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zu druͤcken;
Dreimal entſchwebte ſie leicht, wie ein Schatten oder ein Traumbild,

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[212/0218] Oduͤßee. Alſo ſprach ich; mir gab die theure Mutter zur Antwort: Allerdings weilt jene mit treuer duldender Seele Noch in deinem Palaſt; und immer ſchwinden in Jammer Ihre Tage dahin, und unter Thraͤnen die Naͤchte. Deine Wuͤrde empfing kein Anderer; ſondern in Frieden Baut Taͤlemachos noch des Koͤniges Erbe, und ſpeiſet Mit am Mahle des Volks, wie des Landes Richter gebuͤhret; Denn ſie laden ihn alle. Dein Vater lebt auf dem Lande, Wandelt nie in die Stadt, und waͤhlet nimmer zum Lager Bettgeſtelle, bedeckt mit Maͤnteln und praͤchtigen Polſtern; Sondern den Winter ſchlaͤft er, bei ſeinen Knechten im Hauſe, Neben dem Feuer im Staube, mit ſchlechten Gewanden umhuͤllet. Und in den milderen Tagen des Sommers und reifenden Herbſtes, Bettet er uͤberall im fruchtbaren Rebengefilde Auf der Erde ſein Lager von abgefallenen Blaͤttern. Seufzend liegt er darauf, bejammert dein Schickſal, und haͤufet Groͤßeren Schmerz auf die Seele; und ſchwerer druͤckt ihn das Alter. Denn ſo ſtarb auch ich, und fand mein Todesverhaͤngniß. Sohn, mich toͤdtete nicht die Freundin der treffenden Pfeile Artemis unverſehns mit ihrem ſanften Geſchoße. Auch beſiegten mich nicht Krankheiten, welche gewoͤhnlich Mit verzehrendem Schmerze den Geiſt den Gliedern entreißen. Bloß das Verlangen nach dir, und die Angſt, mein edler Oduͤßeus, Dein holdſeliges Bild nahm deiner Mutter das Leben! 180 185 190 195 200 Alſo ſprach ſie; da ſchwoll mein Herz vor inniger Sehnſucht, Sie zu umarmen, die Seele von meiner geſtorbenen Mutter. Dreimal ſprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zu druͤcken; Dreimal entſchwebte ſie leicht, wie ein Schatten oder ein Traumbild, 205

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/218>, abgerufen am 27.11.2024.